Die Magie gebürtlichen Lebens: Ravels Bolero

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
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Dr. Holger Kaletha
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Die Magie gebürtlichen Lebens: Ravels Bolero

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Besprochene Aufnahmen des Bolero:

1. Maurice Ravel, Aufn. Paris 1930, Orchestre de Concert Lamoureux
CD SP 4209
2. Ernest Ansermet, Orchestre de la Suisse Romande (Decca)
3. Claudio Abbado, London Symphony Orchestra (DGG)
4. Sergui Celibidache, Münchner Philharmoniker (Live-Mitschnitt) (EMI)

>Leidenschaft Bolero -- Maurice Ravel< ist der Titel einer filmischen Dokumentation von Michel Follin (Frkr. 2007), die kürzlich von Arte gesendet wurde. Sie gibt schöne Einblicke in eine der merkwürdigsten Erfolgsgeschichten eines Musikstücks. Ist der Bolero überhaupt ein Musikstück? Ravel selbst hat diese Frage eindeutig verneint. Der Bolero sei ein "reines Orchesterstück ohne Musik", nichts als ein "langes, progressives Crescendo". Daß diese >Unmusik< das Publikum in aller Welt derart in seinen Bann schlagen würde, konnte weder der Komponist noch seine Interpreten auch nur ahnen. Die alte Dame, die sich nach einer Aufführung zum Komponisten des Bolero entrüstete: >Der spinnt doch!< blieb eher die Ausnahme. Selbst ein so großer Dirigent wie Arturo Toscanini meinte allen Ernstes, dieser ungewöhnlichen Komposition kapellmeisterliche Hilfestellungen geben zu müssen, damit sie überhaupt Erfolg haben könne. Der alte Artur Rubinstein erzählt dazu in seiner gewohnt launigen Art -- mit rauchender Zigarre -- die folgende Anekdote:
"Ich hatte meinen Platz im Parkett in der Oper -- hinter mir saß zufällig Ravel mit seiner guten Freundin, der Geigerin Morhange. Wir begrüßten uns. Ich sagte zu ihm: "Ich freue mich, den Bolero zu hören!" Ravel winkte nur ab. Toscanini dirigierte unglaublich, aber doppelt so schnell. Das Publikum war begeistert. >Bravo! Bravo! Zugabe!< Toscanini mußte zweimal herauskommen. Ich machte den Fehler, mich zu Ravel umzuwenden. Ravel war außer sich vor Wut über Toscanini. Er schrie immer wieder laut in den Saal: "Ich bin der Komponist!" Ich rief ihm zu: "Stehen Sie doch auf, Meister!" Er aber weigerte sich und schimpfte: "Das Schwein hat zu schnell gespielt, das ist unverzeihlich! Das ist unglaublich! Das Stück ist ruiniert!""
Das anschließende >Gespräch< Ravels mit Toscanini ist überliefert. Ravel zu Toscanini: "Das entspricht nicht meiner Tempobezeichnung!" Toscanini: "Wenn ich Ihr Tempo spiele, hat es überhaupt keine Wirkung!" Ravel: "Gut, dann spielen Sie den Bolero eben nicht!" Toscanini: "Sie haben keine Ahnung von Ihrer Musik. Das ist die einzige Möglichkeit, damit Ihre Musik überhaupt ankommt!"
Das Werk verdankt seine Entstehung einem Auftrag der Tänzerin Ida Rubinstein. Sie war ehemaliges Mitglied des berühmten Ballett-Ensembles von Sergei Dhiagilev, der in Paris u.a. Strawinskys >Sacre du Printemps< und Debussys >Jeux< uraufführte. Ihren Reichtum nutzte sie, um Auftragskompositionen für Ballettaufführungen zu erteilen. Das Konzept lautete: Unbekannte Werke bekannter Komponisten. Ravel sollte ein spanisches Werk liefern. Vorgesehen war ursprünglich, daß er ein Stück aus Isaac Albeniz Klavierzyklus >Iberia< orchestrierte: Über Ravels Besuch bei Ida Rubinstein berichtet wiederum Artur Rubinstein (der mit ihr übrigens nicht verwandt ist!):
"Kennen Sie die Geschichte vom Bolero? Zu dieser Zeit ging es Ida Rubinstein sehr gut. >Aber mein Lieber<, sagte sie zu Ravel, >das Stück soll eigentlich nicht länger als 12 Minuten dauern. Aber ich kann keine 5 Ballette hintereinander aufführen. Ich brauche mindestens 18 Minuten." Ravel wütend: >Immer diese Minutenzählerei!< >Ich werde über ein Thema schreiben, das nicht mal eine Minute dauert.< Das war sein Konzept -- Minuten gewinnen!"
Der Bolero war offenbar für Ravel selbst eine Provokation -- >keine Musik<. Warum? Da wird ein archaisch einfaches Thema weder variiert noch entwickelt, sondern schlicht 18 Mal so wie es ist wiederholt! Aber das ist alles andere als geistlos. Über den Sinn solcher Wiederholungen schreibt der Maler Wassily Kandinsky in >Über das Geistige in der Kunst<: "Die Wiederholung derselben Klänge, die Aufhebung derselben verdichtet die geistige Atmosphäre, die notwendig ist zum Reifen der Gefühle (auch der feinsten Substanz), so wie zum Reifen verschiedener Früchte die verdichtete Atmosphäre eines Treibhauses notwendig, eine absolute Bedingung zum Reifen ist. Ein leises Beispiel ist der Mensch, auf welchen Wiederholungen von Handlungen, Gedanken, Gefühlen einen schließlich gewaltigen Eindruck macht, wenn er auch wenig fähig ist, die einzelnen Handlungen usw. intensiv aufzusaugen, wie ein ziemlich dichter Stoff die ersten Regentropfen."
Die Wiederholung hat einen Verdichtungseffekt, wie die Wolken, die sich zu einem Gewitter zusammenballen. Und diese Verdichtung vollzieht sich kaum merklich, in winzigen Schritten und Stufen -- es entsteht so der Eindruck eines allmählichen, kontinuierlichen Wachstums. Dabei ist es gerade die unveränderte Wiederholung, die solche unglaublich kleinen Veränderungen der Orchestrierung und Klangfarbe merklich werden läßt. Die magische Anziehungskraft von Ravels Bolero beruht nicht zuletzt auf dem Zauber der Gebürtlichkeit, dem Eindruck taufrischen, erwachenden Lebens, den er vermittelt. Der Zartheit und Vagheit zu Beginn weicht schließlich ein Sturm der Leidenschaft, die sich in einer Art befreiender Explosion auflöst. Das Erwachen des Lebens hat Ravel auch in seinem Ballett >Daphnis et Chloe< geschildet. Dort gibt es im Finale die wahrlich überwältigende Schilderung eines Sonnenaufgangs -- die Musik wirkt hier eindrucksvoller, als es jeder >wirkliche< Sonnenaufgang zu sein vermag! Das tragisch-düstere D-Dur Klavierkonzert für die linke Hand beginnt mit einem Brodeln in der Tiefe, das sich zu einem wahren Sturm steigert und mit einer gewaltigen Eruption endet, die das Solo einsetzende Klavier mit abstürzenden Kaskade beantwortete. Und >La Valse< beruht auf einem ähnlichen unendlichen Crescendo wie der Bolero: Ein Walzer, der von den destruktiven Kräften seiner Dynamik, die er entfacht, schließlich gefressen wird: Ravel, der Komponist des dämonischen 20. Jahrhunderts, kann keine naive Walzerseligkeit mehr komponieren!
Maurice Ravel wurde am 7. März 1875 in Ciboure im Baskenland geboren. Sein Vater Pierre-Josef, Franzose, Ingenieur und Erfinder eines "mit Mineralöl geheizten Dampfkessels" sowie eines >Überdruck-Zweitaktmotors< kam infolge des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 nach Spanien und heiratete dort, wo er mit dem Ausbau der Eisenbahn beschäftigt war, die junge Baskin Maria Deluarte. Die baskische Herkunft Ravels ist in vielen seiner Werke unüberhörbar, so in der Uhrenoper >Spanische Stunde< (LHeure Espagnole), der Rhapsodie espagnole für Orchester, dem Klavierstück >Alborada del Gracioso< (>Morgenständlichen eines Narren<) aus den >Miroirs< (>Spiegel<). Und die Jazz-Elemente im D-Dur-Klavierkonzert klingen alle merkwürdig spanisch! Im Bolero steckt der baskische Kolorit in der Orchestrierung, wie der Komponist Michel Sendrez im Film erläutert: Das Pizzicato der Streicher imitiert ein baskisches Hirteninstrument, das Tjun Tjun, ein Saitentambourin, das mit dem Stock geschlagen wird. Die helle Trommel erinnert an ein Atabal und die Flöte an ein Tschischtu.
Die Anekdote mit Toscanini ist auch heute noch aktuell: Die meisten Aufführungen des Bolero sind eindeutig zu schnell! Ravel selbst in seiner Aufnahme von 1930 erreicht zwar auch nicht die ursprünglich vorgesehenen 18 Min., er kommt auf immerhin 16.14 Min! Er demonstiert hier den Dirigenten vom Fach, daß ein einheitliches Grundtempo erforderlich ist, ohne Dehnungen und Stauchungen zum Schluß. Auch heute nehmen sich manche Interpreten die Freiheit heraus, den Kulminationspunkt durch einen Tempowechsel dramatisch zu unterstreichen: So zieht Abbado zum Schluß das Tempo an, Lorin Maazel wird breiter, auch das erzielt einen dynamischen Schlußeffekt. Ravel selbst zeigt allerdings, daß der Bolero solche theatralischen Gesten nicht nötig hat. Seine Aufnahme ist hörenswert, wenn sie auch einige Wackler und Ungenauigkeiten aufweist! Erstaunlich, daß selbst ein so berühmter Interpret der Musik von Debussy und Ravel, Ernest Ansermet, den Bolero in zügigen 14.20 Min. zuende bringt -- Abbado benötigt exakt dieselbe Zeit! Hatte Toscanini also doch recht?
Da belehrt einen schließlich Meister Celibidache eines besseren! Celibidache läßt den Bolero in exakt 18.11 Min. zur Entfaltung kommen! Und wer diese unglaubliche Aufnahme einmal gehört hat, der wird das Gefühl nicht mehr los: So und nicht anders muß es sein! Den Bolero schnell zu dirigieren, ist wahrleich keine Kunst! Aber in dem vergleichsweise langsamen Tempo die Spannung nicht abbrechen zu lassen und exakt im Rhythmus zu bleiben, ist ein wahres Kunststück! Bei Celibidache kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus: Von der ersten Note an bekommt der Bolero etwas insistierend Marsch- und gebetsmühlenhaft Litaneiartiges. Es entsteht so eine knisternde Spannung, die wie in Kandinskys Ausführungen über die Wiederholung und Verdichtung sich bis zum Bersten steigert. Die phantastischen Bläser haben Individualität, sind geradezu aufopferungsvoll engagiert und hochexpressiv. Dank Celibidaches Probenfanatismus wird jede einzelne melodische Linie bis in die kleinsten Bebungen akribisch ausgehorcht. Und Celibidache hat ein schier unglaubliches Gespür für die Orchesterwirkung: Wie er das groß angelegte Crescendo durch subtile Veränderungen der Balance zwischen den Orchestergruppen zum Ereignis werden, den Rhythmus am Schluß fast schon martialisch und bedrohlich auftrumpfen läßt: einfach atemberaubend! Für mich gibt es nur diesen einen Bolero!
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