Impuls- und Sprungantwort (Dr. Gert Volk)

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Impuls- und Sprungantwort (Dr. Gert Volk)

Beitrag von Aktives Hören »

Bei der Diskussion von Lautsprechern, aber auch des Gesamtssystems Lautspecher/Hörraum stößt man unweigerlich auf die Begriffe Impuls- und Sprungantwort (= Übertragungsfunktion). Gert hat sich unserem Bedürfnis nach Aufklärung angenommen:
JOE hat geschrieben:Bei Wikipedia lese ich (als technisch interessierter Laie):

Die Sprungantwort oder Übergangsfunktion ist das Ausgangssignal eines eindimensionalen, linearen, zeitinvarianten Systems, dem am Eingang die Heaviside-Funktion (auch Sprungfunktion genannt) zugeführt wird. Da die Sprungantwort über die Laplacetransformation mit der Übertragungsfunktion verbunden ist, kann die Übertragungsfunktion (näherungsweise) aus der Sprungantwort ermittelt werden. Im Vergleich zur Impulsantwort ist dabei vorteilhaft, dass ein Sprung als Eingangsgröße bei einem realen Aufbau in der Regel einfacher als ein Impuls zu verwirklichen ist. Damit ist die Sprungantwort eine wichtige Kenngröße des Systemverhaltens. (Hervorhebungen von mir)

Jetzt sind unsere Experten gefragt.
Den gesamten Beitrag findet man hier.
Fortepianus hat geschrieben:Meine Herren,

ich will versuchen, den Sachverhalt mit der Sprungantwort zu erklären. Joe, Du hast es so gewollt. Beschwer' Dich also bitte nicht, wenn ich jetzt ein bisschen aushole.

Nehmen wir doch mal an, wir hätten eine kleine Schaltung gebaut, die nur aus einem Widerstand und einem Kondensator bestünde. Ja ja, werden die meisten und speziell Sigi sagen, das ist, je nachdem, wie ich die zwei Bauteile zusammen löte, ein Hoch- oder ein Tiefpass erster Ordnung, mit 6 dB/Okt Flankensteilheit. Die Lötarbeiten übernimmt ein ausgewiesener Experte, sagen wir Kai.

Nun legen wir irgendein elektrisches Signal an den Eingang, z. B. das Musiksignal, das aus sagen wir Sigis Netzwerk-Player kommt. Das ist nun aber kein reines Sinussignal bei genau einer Frequenz, sondern da singt gerade Cecilia Bartoli, ein Cembalo untermalt dezent ihre Stimme und ein paar Streicher dürfen auch noch mit machen. Schaut man sich den Zeitverlauf dieser Spannung an, z. B. mit einem Oszilloskop, ist das ein wildes Gezappel, das mit der Schönheit von Frau Bartolis Stimme nicht viel gemein hat.

Jetzt will Sigi wissen, wie das Signal nach unserer Schaltung aussieht. Rechne es doch aus, sagt Joe. Und merkt plötzlich, dass das mit der normalen Schulmathe gar nicht so einfach geht. Warum? Er, ein Messtechnikfuchs, der er nun mal ist, hat es gemeinsam mit den Herren Kai und Sigi geschafft, den Zeitverlauf von sagen wir 10 Sekunden des Musiksignals auf einem Speicheroszilloskop festzuhalten. Das wurde übrigens eigens dafür angeschafft - Wissen kostet Geld. Dann wurde in einem alten Vorlesungsskript von Sigi geblättert und dort möglicherweise gefunden, wie man die Übertragungsfunktion unserer Schaltung ausrechnen kann. Übertragungsfunktion heißt, vereinfacht gesprochen, bei welcher Frequenz die Schaltung wieviel durchlässt. Man hat also die Dämpfung unseres RC-Spannungsteilers als Funktion der Frequenz. Was macht nun diese Funktion mit Frau Bartolis Stimme? Gut, multiplizieren wir doch einfach das Musiksignal mit der Übertragungsfunktion. Und das klappt irgendwie nicht :( . Das Musiksignal, Joes teure 10 gespeicherte Sekunden, liegt als Funktion der Zeit vor. Die Übertragungsfunktion der Schaltung als Funktion der Frequenz.

Mit der Lösung dieser einfachen Problemstellung wird nun jeder Elektrotechnik-Student in den ersten vier Semestern gequält, bis ihm die dazu nötige Laplace-Transformation zu den Ohren raus kommt. Man muss das Eingangssignal, hier den Spannungsverlauf des Musiksignals, vom Zeit- in den Frequenzbereich transformieren. Oder anschaulicher gesagt: Das Spektrum des Signals berechnen, den Frequenzgang also. Und den Phasengang kriegt man auch noch gleich dazu bei der Laplace-Transformation - es ist die allgemeinere Form der Fourier-Transformation, deren Name manch einer vielleicht schon im Zusammenhang mit Frequenzgangmessungen am Rechner gehört hat. Das Ergebnis ist also eine Funktion, die Frequenz- und Phasengang beinhaltet. Das ist also eine Funktion, die nicht nur die Amplitude, also Signalhöhe in Abhängigkeit der Frequenz beinhaltet, sondern auch die Phase - so was stellt ein Elektrotechniker in einer komplexen Funktion dar. Die komplexen Zahlen sind die reellen Zahlen um eine weitere Dimension erweitert - die zweite Dimension hat die Einheit i, das ist Wurzel aus minus 1. In Richtung der reellen Zahlen ist die Phasenverschiebung Null, in Richtung i ist sie 90 Grad. Zu Wurzel aus -1 sagen übrigens nur die Mathematiker i, die E-Techniker sagen dazu j, meinen aber dasselbe. Das Ergebnis der Laplace-Transformation ist also eine Funktion mit Real- und Imaginärteil als Funktion der Frequenz. So, jetzt vergesst das mit den komplexen Zahlen schnell wieder.

Wir haben nun also, dank Laplace-Transformation, den Gesang Cecilias in eine noch einmal andere Höhe erhoben, als er sowieso schon ist. Jetzt liegt er als Funktion der Frequenz vor - und Joe kann die Übertragungsfunktion der RC-Schaltung (ebenfalls eine komplexe Funktion übrigens) spielend mit der Laplace-Transformierten von Frau Bartolis himmlischem Gesang multiplizieren.

Das Ergebnis ist nun aber nach wie vor eine komplexe Funktion im Frequenzbereich. Eigentlich wollte Sigi ja wissen, wie das Signal hinter Kais Schaltung aussieht, also welchen Zeitverlauf es hat. Na dann, also rückwärts das ganze Spiel - vom komplexen Frequenzbereich in den Zeitbereich kommt man, wer hätt's gedacht, mit der Laplace-Rücktransformation. Joe präsentiert stolz das Ergebnis, und Sigi sagt: Das ist ja wieder irgend so ein Gezappel wie vor der Schaltung, was habe ich da jetzt davon? Außerdem, toll Joe, dass Du das jetzt rechnen kannst, aber warum haben wir eigentlich nicht gleich das Oszilloskop hinter die Schaltung geklemmt und das gewünschte Ergebnis einfach gemessen?

Nun, angenommen, die Schaltung, die wir untersuchen wollen, sei nicht Kais Schaltung in exzellenter technischer Ausführung, sondern eine geringfügig kompliziertere Angelegenheit, wie z. B. die neue Frequenzweiche von einem etwas schludrigen Lötfreak, nennen wir ihn Gert. Gert kann nun gar nicht rechnen, sondern hat einfach ein paar Bauteile zusammen gefriemelt und behauptet, das sei das Beste, was es gibt. Und weil er das für so super hält, hat er Uhu-Plus über das Kunstwerk gekippt, damit ihm das auch ja keiner nachbauen kann. Oder gar, nachdem jemand die Schaltung abgemalt hat, die Übertragungsfunktion ausrechnen kann.

Na, das wollen wir doch sehen, sagt Joe, messen wir doch einfach mal, welche Übertragungsfunktion das angebliche Sahneteilchen hat. Welches Signal muss man dazu vorne rein schicken, fragt Sigi.

Sigi, jetzt musst Du ganz tapfer sein. Jetzt kommt nämlich Deine persönliche Lieblingsfunktion, wie wir weiter oben schon erfahren durften. Die Deltafunktion von Paul Dirac :cheers:. Mathe ist immer irgendwie theoretisch, deshalb ist die auch Diracstoß genannte Deltafunktion theoretisch ein unendlich kurzer Impuls mit einer theoretisch unendlich großen Signalhöhe. Und das unendlich Große gleicht das unendlich Kurze gerade so aus, dass die Fläche, also das Integral, gerade 1 wird. Nicht besonders anschaulich, zugegeben. Aber die Deltafunktion wäre genau das, was man da vorne reinschicken müsste. Weil die Laplace-Transformierte der Deltafunktion gerade 1 ist! Das, was dann hinter Gerts Uhu-Plus-Klumpen raus kommt, wenn man einen Diracstoß rein schickt, ist dann die Impulsantwort. Deren Laplace-Transformierte genau die Übertragungsfunktion ist, die Gert unter Kunstharz verstecken wollte!

So ein Diracimpuls ist nicht besonders handlich. Gut, Kai lötet zwar schnell mal was zusammen und kriegt einen Impuls mit nur 1 ns Dauer hin. Das ist schon recht kurz. Damit aber das Integral 1 gibt, bräuchte man dafür eine Signalhöhe von 1 Gigavolt. Ein Blitz, bevor er sich entlädt, kriegt ein paar Megavolt zusammen, nur so als Vergleich, das ist lächerlich dagegen. Bei 1 Gigavolt wird sich Gerts Schaltung in einem Plasma ähnlich demjenigen im Innern der Sonne verflüchtigen, ohne ihr Geheimnis gelüftet zu haben.

Wie praktisch, dass das auch anders geht. Das Integral der Deltafunktion ist die von Joe schon zitierte Sprungfunktion von Heaviside. Wie schon gesagt, das Integral der Deltafunktion ist ja 1. Aber erst, nachdem der Impuls stattgefunden hat, nach seinem Ereigniszeitpunkt. Und das Integral springt genau zu diesem Zeitpunkt von Null auf Eins. Das ist elektrisch nun viel einfacher zu machen als der unendliche kurze, aber unendlich hohe Impuls. Einfach einen Schalter umlegen, schon hat man eine Sprungfunktion. Dafür ist das Ergebnis nicht die Impulsantwort, sondern die Sprungantwort. Aus der sich aber ebenso die Übertragungsfunktion berechnen lässt, wenn man ein bisschen Differenzialrechnung gelernt hat. Und so kommen Kai, Sigi und Joe doch noch dem angeblichen Geheimnis von Gerts zusammen gebackener Lochrasterplatine auf die Spur. BTW: Die Mühe hätten sie sich auch sparen können, denn Gert wird seine neue, inzwischen übrigens zu seiner vollen Zufriedenheit spielende Subtraktionsweiche eh demnächst hier irgendwo vorstellen.

So, damit dürfte klar sein (oder auch nicht): Sowohl die Impuls- als auch die Sprungantwort beschreibt das Verhalten der Schaltung vollständig. Nicht nur der Schaltung unseres Beispiels, sondern auch eines kompletten Übertragungskanals, egal, wie kompliziert er ist. Was man doch möchte, ist: Den Spannungsverlauf des Musiksignals in einen Schalldruckverlauf am Hörplatz umsetzen. Also die Übertragungsfunktion 1, eine 1 für alle Frequenzen. Vergessen wir mal, dass es einmal um Spannung und einmal um Schalldruck geht, dazwischen liegt nur eine Umrechnungskonstante, die am Prinzip nichts ändert. Hat man die Sprungantwort am Hörplatz, kennt man die komplette Übertragungsfunktion des Lautsprechers und dessen, was sonst noch alles im Signalweg war. Und kann natürlich auch ausrechnen, welche (inverse) Übertragungsfunktion notwendig wäre, um die gewünschte Übertragungsfunktion 1 zu bekommen. Übrigens: Die zeitdiskreten Koeffizienten eines FIR-Filters, das sowas im digitalen Bereich bewerkstelligen kann, stellen genau die Impulsantwort dieser inversen Übertragungsfunktion zu den Abtastzeitpunkten dar.

Zur Ursprungsfrage zurück, nämlich "was heißt Korrektur der Sprungantwort". Wenn ein Lautsprecher einen super linearen Frequenzgang am Hörplatz hat, also alle Frequenzen genau mit gleicher Amplitude ankommen, heißt das noch lange nicht, das der Sprung des Testsignals (Heavisides h(t)-Sprung) genau so als Schalldruck am Hörplatz ankommt. Wenn nämlich die einzelnen Wege des Lautsprechers unterschiedlich lange brauchen, um die ihnen zugewiesenen Frequenzanteile der Sprungfunktion, die theoretisch alle denkbaren Frequenzen beinhaltet, auszusenden, kommen diese Frequenzanteile auch zu unterschiedlichen Zeiten am Hörplatz an. Mit Korrektur der Sprungantwort ist also die Herstellung der Zeitrichtigkeit gemeint, so dass alle Frequenzanteile sich wieder zur ursprünglichen Sprungfunktion vereinen.

Dem sind natürliche Grenzen gesetzt. Nur mal so als Beispiel: Der Schalldruck eines idealen Kolbenstrahlers, dem ein Konuslautsprecher recht nahe kommt, ist proportional zur Beschleunigung seiner Membran. Wenn man also die "1" der Sprungfunktion im Spannungssignal in eine "1" im Schalldrucksignal umsetzen will, muss die Membran eine konstante Beschleunigung erfahren. Dazu muss ihre Geschwindigkeit linear immer weiter zunehmen, und man hätte sie schneller im Gesicht, als einem lieb wäre. Konstruktiv bedingt ist nach ein oder zwei Zentimetern Weg aber Schluss mit der Beschleunigung.

Deshalb ist in der Realität die Sprungantwort eines Lautsprechers, selbst wenn er exakt zeitrichtig arbeitet, ein steiler Sprung nach oben, dessen Steilheit von der höchsten Frequenz abhängt, die der Lautsprecher in der Lage ist wiederzugeben. Und direkt nach diesem Sprung nach oben klingt der Schalldruck langsam wieder ab, bis er schließlich wieder Null ist. Je tiefer die niedrigste Frequenz ist, die der Lautsprecher wiedergeben kann, desto langsamer.
Den gesamten Beitrag findet man hier.
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