Digitale Phasenlinearisierung ohne FIR-Filter

KSTR
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Beitrag von KSTR »

phase_accurate hat geschrieben:Hoffe ich habe hiermit alle Klarheiten beseitigt.
Hey Charles, du alter Scherzkeks! ;)
Du weißt doch, jede Formel verringert die Leserschaft und die Hälfte (und ohne Math-Fonts erst recht -- auch wenn Chris schon etwas für mehr Lesbarkeit gesorgt hat [und Chris, du hast PN]), macht bei 5 Formeln schon nur noch 1/32tel (das wären im Moment also noch 3.28 Leute). :mrgreen: :mrgreen:
Wenn genug Zeit ist, werde ich so etwas wie eine kleine Anleitung machen.
Ein How-to wird sicherlich angemessen sein, ohne Zweifel.

Bis dahin illustriere ich das Vorgehen bereits mal mit einem willkürlichen Beispiel und versuche damit wieder etwas gut zu machen, um sagen wir zumindest 1/8 der Leser bei Laune zu halten. :cheers:

Nehmen wir 1 kHz Trennfrequenz und hoffen, dass wir die Weiche variabel genug einstellen können. Wir brauchen nämlich ein Trennfilter 2ter Ordnung und mit Q=1 (zumindest in diesem Beispiel). Das ist leider kein Standardtyp wie Bessel (Q=0.58 ), Butterworth (Q=0.707) oder Linkwitz-Riley (Q=0.50). Ausserdem muss der Hochpasszweig verpolt werden (kann am LS passieren). Die Filterfrequenz von 1 kHz ist als Pol-Frequenz zu sehen, nicht etwa als eine -3dB-normierte Filterfrequenz der Einzelfilter. Eben deswegen der Kommentar wg. Flexibiltät der Weiche, es sollten die Filterwege komplett unabhängig voneinander einstellbar sein, und nicht etwa bloß reine "Anwenderfunktionen" wie "Butterworthweiche 2ter Ordnung bei XXX Hz".

Für den Tiefpasszweig brauchen wir ein High-Shelving-Filter mit 707Hz Mittenfrequenz (1kHz/Wurzel2) und +6dB, für den Hochpasszweig einen Low-Shelf bei 1410Hz (1kHz*Wurzel2) und ebenfalls +6dB (diese Filter haben also +3dB bei ihrer Mittenfrequenz).

Dazu die Plots der Übertragungsfunktionen, von oben nach unten die Legende:
1.ter Plot, Gesamt:
- grün : Summe von (Gesamt-)Hochpass und Tiefpass, in Betrag und Phase (Phase gestrichelt), man sieht die gewünschte Nullsume von Betrag und Phase, alles perfekt linearphasig.
- blau und rot : jeweils (Gesamt-)Tiefpass und Hochpass einzeln, es ist die Überlappung zu erkennen sowie die "fast-Gegenphasigkeit" der Wege, sowie Pegelüberhöhungen von etwa 4.5dB -- und das ist schon ein Problem, diesen Headroom müssen Chassis und Verstärker haben, speziell der Hochpassweg ist ein Problem (wenn es der oberste Weg ist), dort braucht man effektiv eher mindestens 6dB, besser 9dB. Kritisch sind Rechtecksignale im Bereich der Trennfrequenz (ok, ok, könnte man als pathologisch betrachten), da wird am meisten Headroom verschlissen.

2.ter bzw. 3ter Plot, Tiefpasszweig bzw Hochpasszweig:
grün: Betragsfrequenzgang des Shelving-Filters
blau: Betragsfrequenzgang des resultierenden Trennfilters
rot: Betragsfrequenzgang des eigentlichen Trennfilters, ohne das Shelving.

Bild

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Es gibt auch noch eine andere Variante der Ersatzkonstruktion (auch bei Kreskovsky geklaut). Bei dieser ist, wie bei der ersten, natürlich genauso Voraussetzung, dass die digitale Weiche ein analoges Phasenverhalten hat, also den selben Phasengang erzeugt für ein bestimmtes Filter (egal ob nun parametrisch, Hoch/Tiefpass oder Shelving -- auf deutsch "Kuhschwanzfilter"), wie es auch eine analoge Schaltung für dieser Filter täte. Das sollte eigentlich gegeben sein bei der Zielanwendung "Weiche", dennoch müsste man das eigentlich prüfen. Sei dem auch wie...

... die andere Varainte, beispielhaft, also: Man nimmt ein Schulbuch-Trennfilter 2ter Ordnung, hier Linkwitz-Riley, verstimmt aber die Trennfrequenz (hier bei LR ==Polfrequenz) für den Tiefpass um den Faktor Wurzel2 nach oben und für Hochpass um Wurzel2 nach unten (und wieder: hoffentlich erlaubt die Weiche dies), d.h. die Filter überlappen sich jetzt. Ausserdem muss man wieder den Hochpass verpolen. Die Summe ergibt jetzt ein Übertragungsfunktion mit einer Delle bei der Trennfrequenz. Da alles minimalphasig ist, kann man diese Delle unter bestimmten Umständen mit einem einzigen passenden Parametrik-EQ auffüllen und erhält einen flachen Summenfrequenzgang, in Betrag und Phase. Für das Beispiel nimmt man einen PEQ auf der Trennfrequenz, mit Q=0.58 und +7 dB Anhebung. Die Pegelüberhöhung der einzelnen Wege ist etwas weniger, aber immer noch 4 dB. Es gibt halt nichts umsonst.

Grüße, Klaus
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wgh52
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Beitrag von wgh52 »

Hallo Klaus,

Danke für die anschauliche Erklärung. Das hilft wirklich eine Menge zum Verständnis!

Soweit ich sehe, muss das Shelving Filter eine bestimmte "Übergangs-Steilheit" oder Charakteristik haben, die ist aber bei meiner Weiche nicht verstellbar, sondern fest vorgegeben... Darum scheint der Weg mit "verschobenem" Filter und parametrischem EQ erfolgversprechender. Ich kann diesen vor der Weichenfunktion ansiedeln, dann wird der Eingangspegel der Weiche frequenzabhängig angehoben.

Insgesamt läuft dieser Weg zwar auf eine "quasi" phasenlineare Weiche hinaus, aber die Phasenverläufe der Chassis werden ja nicht "berücksichtigt", also wird der Gesamtlautsprecher doch nicht phasenlinear sein. Das heisst für mich: Eine Verbesserung, die sich lohnt auszuprobieren, sie erreicht aber nicht vollständig die Gesamtlautsprecher-Phasenlinearität, die ohne FIR Filter erreichbar schien... Oder mache ich einen Denkfehler?

Etwas sehr Wichtiges fiel mir gerade ein: Die beschriebenen Ansätze beziehen sich ja auf 2-Weg Weichen. Mein System ist aber ein 3-Weg-System! Nach dem, was meine Simulationen ergeben, scheint das nochmal eine viel komplexere Problematik zu sein, wenn man phasenlinear hinbekommen will...
Was sagen die Experten? Muss ich jetzt doch zur DEQX greifen?

Danke für Eure viele Mühe, ich habe viel dazugelernt!
Gruss,
Winfried
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KSTR
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Beitrag von KSTR »

Hallo Winfried,
wgh52 hat geschrieben:Soweit ich sehe, muss das Shelving Filter eine bestimmte "Übergangs-Steilheit" oder Charakteristik haben, die ist aber bei meiner Weiche nicht verstellbar, sondern fest vorgegeben...
Ein Shelving-Filter ohne weitere Angaben wird als 1.ter Ordnung angenommen, jedoch gibt es auch höhere Ordnungen (steilere Übergänge). Ob deine nun 1.ter Ordnung sind, kann nur eine Messung bringen, ich gehe aber mal davon aus. Mit ARTA z.B. lassen sich solche elektrischen Übertragungsfunktionen messen.
Insgesamt läuft dieser Weg zwar auf eine "quasi" phasenlineare Weiche hinaus, aber die Phasenverläufe der Chassis werden ja nicht "berücksichtigt", also wird der Gesamtlautsprecher doch nicht phasenlinear sein. Das heisst für mich: Eine Verbesserung, die sich lohnt auszuprobieren, sie erreicht aber nicht vollständig die Gesamtlautsprecher-Phasenlinearität, die "ohne FIR Filter" erreichbar schien... Oder mache ich einen Denkfehler?
Äh, die Chassis wurden jetzt als pefekt angenommen, d.h. es wird vorausgesetzt, dass diese bereits entzerrt sind, auf flachen FG, oder zumindest auf gleichen (der dann wieder per EQ über alles glättbar ist). Es sind also in der Praxis weitere Filter (auch wieder PEQ und Shelves und evtl. Delay, sowie Pegel natrürlich) erforderlich, um die Chassis einzeln in einem Bereich von etwa (mindestens) 2 Oktaven um die Trennfrequenz herum glattzuziehen, in Betrag und Phase(alias Gruppenlaufzeit). Diese Filter musst du seperat und empirisch ermitteln (wieder mit z.B. ARTA), d.h. solange drehen bis es passt (grob kann man aber anhand nackter Kurven sehen, wo man was drehen muss).

Siehe dazu auch Kreskosvsky: www.musicanddesign.com/icta_cross.html

Part II beschreibt genau dieses Vorgehen, damit als akustische Übertragungsfunktion auch das herauskommt, was wir jetzt hier ausbaldowern. Bei Linkwitz findet sich auch einiges zur Vorentzerrung der Chassis, damit die Filterfunktionen hinterher stimmen.

Die korrekte Funktion der phasenlinearen Weiche allein (ohne Chassis-Korrektur) kannst du ebenfalls durch Messen überprüfen, dazu musst du die Wege elektrisch addieren (Polaritäten beachten), es muss sich die Nullsumme in Betrag und Phase ergeben.

D.h. wenn die Weiche flexibel genug ist, läßt sich durchaus ein (fast) perfektes Verhalten erreichen, soweit wie die Chassis halt mitspielen. Der dritte Weg ist kein Problem, d.h. die Lowpass-Hälfte der MT/HT-Trennung durchläuft nochmal eine solche emulierte Weiche für die Trennung TT/MT (oder umgekehrt). Das muss das Routing der Weiche natürlich ermöglichen. Man kann theoretisch auch gleich ein Polynom höherer Ordnung nehmen und dann drei Teile abspalten und diese Transformation versuchen, aber das artet in stressige Mathematik aus :lol:

Beste Grüße, Klaus
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KSTR
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Beitrag von KSTR »

Hallo Winfried,

habe mir jetzt das Manual deiner SRP-F300 Weiche mal angesehen... damit geht dann doch wohl nur der zweite Ansatz, weil man keine Shelves auf die einzelnen Wege legen kann, nur global. Aber LR12 mit gesplitteten Frequenzen geht, und PEQ global auch, d.h. die zweite Methode sollte funzen, mit dann zwei "Dellenflicker"-PEQ, wären immer noch 9St PEQ/Shelves zur Korrektur über alles frei. Dann wären alle dei PEQ pro Weg für das Korrigieren der Chassis verfügbar, sollte auch reichen. Phasenumkehr und Limiters hat's ebenso, alles prima.

Grüße, Klaus
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wgh52
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Beitrag von wgh52 »

Danke für Deine Recherche Klaus! Das entspricht dem, was ich gerade programmiere.

Ich habe bereits Linearisierungen der Chassifrequenzgänge gemacht (für meine bisherige Weichenkonfiguration), so dass ich mich auf die Weiche selbst und deren Linearisierung konzentrieren kann. Das akustische Ergebnis muss natürlich gehört (und gemessen...) werden.

Eine kleine Korrektur: Es gibt 2x global und je 3x in den Zweigen die gleichen "Equalizer": Peaking, Shelving, Bandpass, Notch und Parametrisch. Und so benutze ich die Weiche bisher auch.

Wenn ich einen Schritt weiter bin, mache ich mal Bilder der Programmierung, damit man sieht, wie die Entzerrung und die Weiche "aussieht".

Danke nochmals!
Gruss,
Winfried
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KSTR
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Beitrag von KSTR »

Hallo Winfried,

Der Dank -- auch meinerseits -- gebührt wohl in erster Linie Charles, denn der hat mich auf dieses interessante Thema gestossen, drüben im DIYaudio.com, durch pures Mitlesen meinerseits in den betreffenden Freds.
wgh52 hat geschrieben:Ich habe bereits Linearisierungen der Chassifrequenzgänge gemacht (für meine bisherige Weichenkonfiguration), so dass ich mich auf die Weiche selbst und deren Linearisierung konzentrieren kann. Das akustische Ergebnis muss natürlich gehört (und gemessen...) werden.

Eine kleine Korrektur: Es gibt 2x global und je 3x in den Zweigen die gleichen "Equalizer": Peaking, Shelving, Bandpass, Notch und Parametrisch. Und so benutze ich die Weiche bisher auch.
Zu beidem: umso besser! Die Angabe zu den PEQ in den Einzelwegen habe ich wohl im Handbuch irgendwie falsch verstanden. Zusammen mit dem jetzt gerade aktuellen Ansatz, der Hasch-Methode (;)) hast du auf jeden Fall genug Holz zum schnitzen, wir erwarten dann mit Freude deine Ergebnisse.

PS: Diese FRD-Spreadsheets sind der Hammer, nicht wahr? Ging mir auch so als ich das erste mal (ist noch nicht lang her) damit gespielt habe...

Grüße, Klaus
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phase_accurate
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Beitrag von phase_accurate »

Winfried schrieb an anderer Stelle:
Ich hab's gerade selbst bei meinen aktivierten B&Ws wieder erlebt, dass sich "geraderer" Phasengang (nicht nur für mich!) "echter" und "natürlicher" anhört als "krummer"...
Hallo Winfried

Heisst das, dass du schon etwas weiter gekommen bist mit ausprobieren ?

Gruss

Charles
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wgh52
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Beitrag von wgh52 »

Yepp!

bin nur leider noch nicht dazu gekommen das niederzuschreiben. Ich werde das übers Wochenende in meinem "Aktivierung meiner N804" Thread tun.

Auf jeden Fall nochmal herzlichen Dank an Charles und Klaus für die substantielle praktische und theoretische Hilfe, die mich auf meinem Weg wirklich weitergebracht hat!

Hier zunächst nur soviel:

- Die Harsch-Weiche mit vorher "begradigten" Chassisfrequenzgängen läuft wirklich frappierend gut! Verbesserung gegenüber "konventioneller" Weiche war deutlich.

- Die Weiche mit überlappenden Wegen und Equalizer ist nicht so einfach zum Spielen zu bringen, ich weiss noch nicht ob ich das weiter probiere.

An dieser Stelle möchte ich auch Jürgen (hifiwilli) und seiner Frau Gabi für ihren Besuch und die konstruktive Mitarbeit und Kritik beim Ausprobieren der neuen Weiche danken! Wir hatten viel Spass und Musikgenuss!

Mehr später in genannten Thread...

Gruss,
Winfried
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