Karajan: alle Beethoven-Symphonien von 1977 (Klassik)

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
Antworten
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Karajan: alle Beethoven-Symphonien von 1977 (Klassik)

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Bild

Karajans Aufnahme aller Beethoven-Symphonien von 1977 -- wiederveröffentlicht in der Serie Eloquence

Vertraut man den Verkaufszahlen von CDs auf dem klassischen Sektor, dann ist Karajan immer noch die übermächtige, alle anderen Dirigenten und Interpreten überragende Erscheinung: Nach wie vor ist er unbestritten die Nummer eins, was die Plattenverkäufe angeht, so, als stände er als einsamer Unsterblicher bis heute am Pult der Berliner Philharmoniker. Diese Marktpräsenz dokumentieren diverse Wiederveröffentlichungen -- wie die gerade erschienene Aufnahme aller Beethoven-Symphonien von 1977 in der preisgünstigen Eloquence-Serie.
Mir bietet sich so die Gelegenheit dem Phänomen Karajan einmal auf den Grund zu gehen. War Karajan wirklich diese alles überstrahlende Lichterscheinung unter den großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts? Oder kommt sein Ruhm nicht vielmehr auch daher, daß hier ein Dirigent wie kein anderer vor ihm die Medien für die Imagepflege seiner selbst und des Orchesters nutzen konnte?

Ich gebe gerne zu, daß ich nie der ganz großer Karajan-Enthusiast war und das Phänomen Karajan dem zufolge aus einer gewissen kritischen Distanz betrachte. Keine Frage, daß Karajan ein großer Musiker war und daß er über eine nahezu perfekte Dirigiertechnik verfügte, wie man das nur von sehr wenigen anderen Dirigenten sagen kann. Die Beethoven-Aufnahme von 1977 besticht durch eine unglaubliche Orchestervirtuosität sowie einnehmende Flüssigkeit und Leichtigkeit des Musizierens, die sich nur einstellt, wenn der Dirigent seine Schlagtechnik vollkommen beherrscht. Daß sich an Karajan trotz alledem immer wieder die Geister scheiden, liegt sicher auch an seinen durchaus kritikwürdigen interpretatorischen Ansätzen, aber doch vor allem an dem, was nahezu jeder mit ihm verbindet: seine Klangästhetik.

Karajan war bekanntlich der, welcher wie kein anderer zuvor (die Ausnahme vielleicht: der viel zu früh verstorbene Ferenc Friscay) sich darum bemühte, Musik als Tonkonserve zu produzieren und diese Produktion technisch und ästhetisch bis ins letzte Detail zu kontrollieren. Da liegt für mich der Schlüssel zum Verständnis von Karajan. Nicht nur, daß er der Prototyp eines strengen Orchestererziehers ist. Das waren andere wie Toscanini, Klemperer oder Mrawinsky auch. Auch nicht, daß er sich nicht als Partner des Orchesters versteht wie Pierre Boulez etwa, sondern wie ein großer Diktator über allem schaltet und waltet, macht ihn zu dem, was er ist. Das Entscheidende und auch Einzigartige ist, daß hier ein Dirigent versucht, einen Orchesterklang synthetisch -- gleichsam aus der Retorte -- nach seinen ganz persönlichen Klangvorstellungen zu erzeugen. Karajan ignoriert diesem Anspruch und Ziel folgend jede Art von historisch gewachsener und in einer nationalen Kultur verankerter Orchestertradition, beseitigt ganz bewußt jede Art von individueller Spielweise.

Mir ist das klar geworden bei einem Filmmitschnitt einer Probe mit einem Orchester in der Schweiz, die ich vor Jahren in einer Fernsehdokumentation gesehen habe. Da hat er den Bläsern jede individuelle Phrasierung und Akzentuierung gleichsam wie einen musikalischen Teufel ausgetrieben und verlangt, daß sie nur den >reinen< Ton spielen! Bläser sind ja im Grunde ihres Wesens Solisten, Individualisten! Aber Karajan duldet keine Individualität! Denn nur die reine Klangerscheinung ohne alle Eigenwilligkeiten des individuellen Ausdrucks kann er als Dirigent vollständig kontrollieren, selber nach eigenen Vorstellungen formen!

Mit den Berliner Philharmonikern ist ihm dieses Experiment der synthetischen Klangerzeugung gelungen: Er hat hier als Dirigent quasi den lieben Gott gespielt und einen Klangkörper ganz nach seinen Vorstellungen geschaffen. Sehr gut nachvollziehen kann man das, wenn man seine Aufnahme der Beethoven Symphonie Nr. 1 von 1977 mit der von Ferenc Friscay von 1954 mit denselben Berliner Philharmonkern vergleicht. Wer nicht weiß, daß da die Berliner spielen, glaubt, hier handelt es sich um ein völlig anderes Orchester! Man höre das Finale: Die Bläser bei Friscay sind frech, ungemein spritzig und lebendig. Bei Karajan huschen diese Passagen vorüber wie ein flüchtiger Mendelssohnscher Sommernachtstraum: Der Bläserklang hat sich entindividualisiert zum bloßen Sinnesreiz, in eine anonyme Klangfläche aufgelöst. Das klingt durchaus schön, ungemein atmosphärisch, aber eben unrhetorisch, eigentlich nichtssagend! Die Bläser atmen nicht mehr, sprechen nicht mehr, sondern produzieren nur noch bloßen Bläserklang!

Bei Karajan habe ich immer das Gefühl, daß da ein >Dirigent< im wörtlichen Sinne eines >Direktors< vor dem Orchester steht, wie der liebe Gott, der alle Fäden des Schicksals in der Hand hat und niemals aus der Hand geben will. Karajans Musik spielt niemals entfesselt >frei< auf wie bei Carlos Kleiber etwa, alles wirkt irgendwie -- freilich höchst kunstsinnig -- >gemacht<. Und dann ist da diese typische Karajansche Klangästhetik. Musikhören mit Karajan ist: Im Kino in der letzten Reihe sitzen und ein großes Panoramabild an sich vorüberziehen lassen. Die einzelnen Mitglieder des Orchesters sprechen uns nicht an, was wirkt, ist immer das große Ganze, in das sich alles einordnet: Orchestersoldaten, die alle brav in dieselbe Richtung marschieren! Karajans Inszenierung von Musik läßt es einfach nicht zu, daß sich das musikalische Geschehen quasi von selbst entfaltet, durch ihre unmittelbare Präsenz den Dirigenten vergessen macht! Seinem musikalischen Gestus haftet vielmehr der Eindruck des Gewollten an, der Distanz schafft und diese um jeden Preis zu wahren sucht nach dem Motto: Ich der Dirigent bleibe immer Herr des Geschehens, lasse micht von ihm nicht überwältigen! Karajan steht vor dem Orchester wie der Bildhauer vor dem unbehauenen Stein, den er formen will: Was das Orchester macht, ist für ihn Objekt der Gestaltung und diese Objektivierung der Musik zum Träger und Übermittler einer Klangvorstellung bleibt auch im fertigen Produkt erhalten. Bei Toscanini, dem Tyrannen und Probenfanatiker, ist der Eindruck übrigens ganz anders: Hier verschmelzen Dirigent und Orchester zu einer untrennbaren Einheit: Der Dirigent steht nicht mehr vor dem Orchester, er >ist< das Orchester und das Orchester der Dirigent, der aus jedem einzelnen Musiker zu uns spricht! (Diese Magie ist nachvollziehbar in einem überaus faszinierenden Filmmitschnitt der 9. Symphonie, wieder erhältlich auf DVD.)

Karajan dirigiert seine Orchestermaschinerie oft wie ein Feldherr. Beispiel: Das Allegro con brio-Finale der 7. Symphonie (>con brio<: >mit Feuer<), das er doch sage und schreibe 2 Minuten schneller nimmt als der Temperamentsquirl Carlos Kleiber mit den Wiener Philharmonikern! Die Repititionen in diesem höllischen Tempo (Presto und nicht Allegro bei Karajan!) sind von den Bläsern eigentlich nicht mehr spielbar, aber die Berliner bekommen das gerade noch so hin. Und das musikalische Resultat? Carlos Kleibers Aufnahme verkörpert geradezu exemplarisch Richard Wagners Beschreibung der 7. Symphonie als der "Apotheose des Tanzes". Ausgelassenheit und Übermut vermittelt Kleiber , ungezügelte Leidenschaft und Lebensfreude. Das ist beglückend. Karajan dagegen hetzt seine Orchestermaschinerie durch Kommandos vor sich her wie ein Furcht einflößender Diktator: Das alles wirkt zwanghaft und etüdenhaft, von Ausgelassenheit keine Spur!

Gewiß, dirigiertechnisch ist Karajan nahezu perfekt. Und die Streicher seines Orchesters sind Weltklasse. Musikalische Schwächen hat Karajan aber auch -- und die sind sehr elementar! Karajan, der Klangästhet, malt einzelne Klangtupfer auf die Leinwand, aber zeichnet nicht, phrasiert nicht plastisch und präzise! Da ist sie wieder, die fehlende Rhetorik! Am Allegretto der 7. Symphonie sind viele gescheitert wegen des zu langsamen Tempos -- der Satz verliert so seine dramatische Spannung und löst sich in lauter einzelne Episoden auf. Daran scheitert Karajan nicht -- er behält den Blick für das große Ganze. Aber das Thema wird dermaßen wattig und unkonturiert serviert, daß ich mich bei jedem Ton nach Kleiber oder Mrawinsky sehne! Wie glasklar phrasiert ein Evgeny Mrawinsky mit seinen Leningradern die Frage- und Antwortspiele der 1. Symphonie! (Mrawinsky war berühmt für seine Interpretationen der Wiener Klassik und nicht zuletzt deshalb Ehrenmitglied des Wiener Musikvereins!) Davon ist bei Karajan nichts zu hören, auch von Friscays analytischer Schärfe und plastischer Formgestaltung ist er weit entfernt! Und wie vermag Carlos Kleiber die Instrumente seines Orchesters zum Reden und Sprechen zu bringen! Da wird der Atem, der in den musikalischen Bögen lebt (Beispiel: Trio des Scherzos aus der 7.) wirklich sinnlich spürbar, so daß man da am liebsten selber mitdirigieren möchte! Bei Karajan dagegen wirkt diese >Klangrede und Tonsprache< (Johann Matthesons Definition der Musik) steif und einfach unausgeformt!

Polyphones Denken schließlich ist Karajans Sache nicht -- Beethovens Fugen geraten bei ihm allesamt merkwürdig unverbindlich. Die Fuge ist vom mehrstimmigen Gesang her empfunden, da muß man hören, wie die musikalischen Spielbälle von einer zur anderen Stimme weitergegeben werden, wie sie einander als selbständige Individuen antworten. Bei Karajan sind die Stimmen jedoch nicht selbständig, nur das übergeordnete Ganze zählt, nicht das Einzelne! Die Fugen plätschern deshalb so dahin wie ein immer geradeaus fließender Wiesenbach ohne Anhalten, ohne Zäsuren, Widerhaken, welche das Antwortspiel der Fuge so spannend machen! Besonders prekär -- auch in klangästhetischer Hinsicht -- ist das in der 3. Symphonie, der berühmten >Eroica<. Karajan denkt hierarchisch, von oben nach unten: Da gibt es eine führende Hauptstimme und begleitende Stimmen darunter. Die Fuge mit ihrem >demokratischen< Impuls beruht aber auf der Gleichberechtigung der Stimmen. Wie bindet man sie also ein in den homophonen Satz? Bei Karajan wird das Fugato deshalb wie ein Störungsfaktor behandelt, welchen die führende Melodiestimme deshalb so gut (oder schlecht!) es geht einfach zudeckt. Es gelingt ihm so keine wirkliche Synthese von Homophonie und Polyphonie, wie das Beethoven fordert, der ja nicht Bach ist, kein >reiner< Polyphoniker! Karajans Klangbild gerät so letztlich undurchsichtig, fast schon matschig!

An meiner kritischen Distanz zum >Phänomen Karajan< hat also auch dieses >Nachhören< nichts grundlegend geändert! Der Vergleich mit Furtwängler und Toscanini reizt mich allerdings nach dieser Hörprobe mehr denn je, vor allem aus intepretationsgeschichtlicher Hinsicht. Karajan -- so verstand er sich selbst -- wollte ja eine Synthese aus Furtwängler und Toscanini erreichen. Kann man das nachvollziehen? Fortsetzung folgt...
Bild
xeroxus
Aktiver Neuling
Beiträge: 1
Registriert: 11.05.2010, 10:38

Beitrag von xeroxus »

Hallo Holger,

mit riesigem Interesse habe ich Deine sehr fundierte Darstellung zu Karajahns Beethoven-Interpretationen gelesen. Mit Freude werde die von Dir beschriebenen Vergleiche zu Carlos Kleiber und Fricsay einmal versuchen nachzuvollziehen.

Du hattest Weihnachten 2007 schon eine Fortsetzung Deiner Betrachtungen angekündigt. Ich freue mich darauf. Hattest Du auch Beethoven Sinfonien von Klemperer, Abbado/Berliner, Solti, Gardiner oder Leibowitz schon in Deinem Player liegen? Welche Meinungen und Präferenzen hast Du zu diesen Einspielungen? Was hälst Du von Beethoven-Einspielungen mit historischen Instrumenten (Gardiner, Harnoncourt) oder diesen nach Original-Metronom-Vorgaben (Leibowitz). Welche Einspielung kommt wohl den Aufführungen zu Beethovens Zeiten am nächsten? Gibt es da in der Musiktheorie / Wissenschaft eine sich herausbildene übereinstimmende Meinung?

Welche Einspielungen der Dritten, Fünften und Siebten drehen sich bei Dir am meisten im Player, wenn Du diese gerade mal hören magst - als Musikliebhaber, nicht als Musiktheoretiker.

Ich übe mich gerade darin, bei der von mir schon lange geschätzten Musik jetzt auch mal in die Tiefe zu gehen und die unterschiedlichen Interpretationen geliebter Werke zu erhören und für mich zu bewerten. Wie gesagt, ich beginne damit und bin für jeden begleitenden Diskurs dankbar.

Herzliche Grüße
Bernd aus BI
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Hallo Bernd,

das freut mich ja, daß Du meinen Thread ausgegraben hast und ich seit nunmehr fast drei Jahren eine Antwort bekomme. Das ist wahrlich Rekord verdächtig. Seitdem ist viel Zeit verflossen und ich habe mich inzwischen ganz anderen Dingen zugewandt. Seit eineinhalb Jahren arbeite ich nun an einem großen historischen Interpretationsvergleich von Chopins b-moll-Sonate (die mit dem Trauermarsch) und bin immer noch nicht fertig. Im Moment bin ich dabei, meinen lang gehegten Wunsch zu realisieren, mich endlich mit Mahlers Neuinstrumentierung aller Schumann-Symphonien zu befassen - wenn mir denn die Zeit bleibt, ich muß in den nächsten Wochen ein Buch im Verlag abliefern. Der Beethoven ist im Moment also eher weit weg von mir. Den Leibowitz habe ich - das ist eine exemplarische Aufnahme und auch Aufnahmen mit historischen Instrumenten finde ich sehr interessant, immer eine Bereicherung. Ich kenne die von Dir erwähnten allerdings nicht. Was mich reizen würde, ist die im letzten jahr erschienene Neuaufnahme der Beethoven-Symphonien von Charles Mackeras. Das alles wird sicher ein schwacher Trost für Dich sein - aber vielleicht stelle ich ja demnächst etwas ein zum Thema Mahler-Schumann! Vielleicht ist das eine kleine Entschädigung!

Schöne Grüße - nach Bielefeld (?)
Holger
Bild
Harmony
Aktiver Hörer
Beiträge: 71
Registriert: 22.11.2009, 21:22

Beitrag von Harmony »

Dear Holger,

With your review of the Beethoven symphonies recordings of '77 I have had immediately the intention to remember and to compare it with the famous recordings of Karajan with the Berliner Philharmoniker from the end of 1961 to the end of 1962 at the Jesus-Christus-Kirche in Berlin.

A few years ago Deutsche Grammophone released a SACD version (6CD)of these 9 symphonies including a rehearsal of the 9th. I must say that I do love these early recordings of Karajan much more than the '77 version!

Karajan set a standard in this repertoire (also for himself). Only the late '50 EMI recordings with the Philharmonia Orchestra can compete with this Berlin edition. The recording and SACD sound mastering is excellent and it still up to date!

I can fully recommend this box of the complete Beethoven symhonies with the Berliner Philharmoniker under the direction of Herbert von Karajan. 'Tonmeister' is Gunter Hermanns.

DG 474 600-2

Greetings from Rotterdam,

Joop
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Hallo Joop,

ich erlaube mir, auf Deutsch zu antworten, weil ich doch aus Erfahrung weiß, daß Ihr in Holland doch meistens sehr gut deutsch versteht und sprechen könnt. Da ich in meiner Jugend viel Zeit in Eurem schönen Land verbracht habe, verstehe ich Niederländisch eigentlich auch ganz passabel, wenn es nicht zu kompliziert wird, kann es aber nicht sprechen Geschweige denn schreiben!

Du hast Recht - ich habe wohl die >falsche< Karajan-Aufnahme kritisch besprochen und muß mir wohl doch noch einmal eine von den früheren Aufnahmen, die Du erwähnst, anschaffen. Aber wie gesagt bin ich im Moment mit ganz anderen Dingen beschäftigt!

Ein herzliches "tot ziens" nach Rotterdam
Holger
Bild
Harmony
Aktiver Hörer
Beiträge: 71
Registriert: 22.11.2009, 21:22

Beitrag von Harmony »

Holger,

Bedankt voor uw reactie. Veel succes met uw verdere werkzaamheden!

Groeten uit Rotterdam,

Joop
Bild
Antworten