Schostakowitsch Violinkonzert Nr. 1 - eine Symphonie mit obligater Geige

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
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alcedo
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Schostakowitsch Violinkonzert Nr. 1 - eine Symphonie mit obligater Geige

Beitrag von alcedo »

Guten Abend, Klassikfreunde

Eine Symphonie mit obligater Geige – so nannte der Komponist selbst sein Werk, dass jahrelang auf seine Uraufführung warten musste. Erst als Stalin verstarb, wurde es 1955 vom Widmungsträger David Oistrach unter Mrawinsky mit den Leningrad Philharmonikern der Welt vorgestellt.

Eine Kraftanstrengung für jeden Geiger! Bei einer Spieldauer von knapp 40 Minuten ist der Solist fast pausenlos beschäftigt. Daniel Hope erzählte mal dazu folgende Anekdote: „…Und Oistrach, der ein kräftiger Mann war, sagte zu Schostakowitsch: Dimitrij Dimitrijewitsch, bitte, ich brauche mindestens ein paar Sekunden Pause. Kannst Du nicht irgendwie dieses Tutti ohne mich machen? Schostakowitsch hat es dann umgeschrieben für ihn, damit er Zeit hatte, einmal Luft zu holen, und selbst das auch nur für ein paar Sekunden. Wenn sogar Oistrach, der wirklich alles konnte, nach einer Pause verlangte, dann zeigt es, was dieses Stück einem abverlangt."

Dieses wunderbare Konzert höre ich erst seit wenigen Jahren intensiver. Wobei es mir vor allem der 3. Satz angetan hat: diese herrliche Passacaglia, traurig und himmlisch zugleich – gefolgt von einer unglaublichen, sich steigernden Kadenz, die „ewig“ andauert.

Ich habe mich durch diverse Interpretationen gehört, wobei ich mich im ersten Schritt auf neuere Aufnahmen fokussiert habe. Alben aus der Anfangszeit des Konzerts werde ich emnächst noch ergänzen.

Leider haben mich nur wenige Alben wirklich beeindruckt (was an mir liegen kann ;-)). Aber weder die Aufnahmen von Vengerov mit Rostropovich, Daniel Hope mit Maxim Schostakowitsch (dem Sohn des Komponisten) noch Frank Peter Zimmermann mit Alan Gilbert oder Christian Tetzlaff mit John Storgards (letztere trotz sehr schönem Solo-Orchesterzusammenspiel) haben mich tiefer berührt. Hilary Hahn mit dem Oslo PO spielt da schon ein wenig überzeugender.

Spannend empfinde ich dagegen diese 3 Interpretationen:

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1989: Viktoria Mullova unter André Previn mit den Royal PO. Diese Aufnahme wird oft als Referenzaufnahme angegeben und in der Tat zählt sie auch heute noch zu den Topaufnahmen. Allerdings wurde im gleichen Jahr ein anderes Album aufgenommen, das mir noch ein wenig besser gefällt:

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1989: Lydia Mordkovitch unter Neeme Järvi mit dem Scottish Chamber Orchestra. Sie war eine Schülerin von David Oistrach. Mordkovitch spielt mit einer melancholischen Schönheit, die zu Herzen geht. Den Soloteil interpretiert sie langsam, traumhaft, nachdenklich und ausdrucksstark. Ihre Farbvielfalt und Tonreichtum werden in der Aufnahme sehr schön wiedergegeben.

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2006: Sergey Khachatryans Geigenton (unter Kurt Masur mit dem Orchestre National de France) klingt ähnlich „engelsgleich“ wie bei Mordkovitsch, aber statt körperhaft eher luftig, federleicht schwebend wie nicht von dieser Welt. Ein Musikkritiker hat dies irgendwann mal mit „hypnotisierend“ bezeichnet – wahrhaftig ein Bild, das ich nachempfinden kann! Masurs Dirigat lässt allerdings den Wunsch nach einer noch besseren Unterstützung des Solisten aufkommen.

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2016: Nicola Benedetti unter Karabits mit dem Bournemouth SO. Die Geigerin wurde bereits hier schon einmal besprochen.
Benedetti spielt das Werk zwar nicht geglättet, aber doch weniger „kämpferisch“, weniger stürmisch, weniger dunkel, weniger wild – dafür eher einheitlich, milder. Und das hat auch etwas Einnehmendes!

Viel Spaß beim Hören dieses wunderbaren Violinkonzerts.

Beste Grüße
Jörg
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Melomane
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Beitrag von Melomane »

Hallo Jörg,

ich ziehe meinen Hut vor dir und deinen intensiven Vergleichen. :cheers: Und denke, wenn ich lese, dass der Oistrach Luft hätte haben wollen, dass das recht anstrengend gewesen sein dürfte. ;) Aber wenn du das Konzert als wunderbar empfindest, ist alles gut. :)

Viele Grüße

Jochen
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

Moin Jochen,

die verschiedenen Oistrach-Aufnahmen höre ich mir derzeit gerade an - neben anderen Interpretationen aus der Zeit um die Uraufführung herum.
Da herrscht in der Tat eine ganz andere "Luft". Mindestens genau so prickelnd und spannend!

VIelel Grüße
Jörg
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alcedo
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Beitrag von alcedo »

2. Teil: Frühe Aufnahmen des Violinkonzerts

Das ist ein spannendes Thema, da die Partitur 7 Jahre nicht aufgeführt werden durfte ("Kalter Krieg") und nur auf Grund der Tatsache, dass es Ende 1955 in den USA uraufgeführt werden sollte, wurde es am 29.10.1955 noch schnell in Moskau uraufgeführt (und kurzerhand von op.77 in op.99 umbenannt). In der sowjetischen Presse wurde das Werk weitgehend totgeschwiegen - in der Prawda fand sich lediglich auf der letzten Seite ein kurze Erwähnung. Daraufhin (1956) schrieb David Oistrach einen (seiner seltenen) Artikel in der Zeitschrift „Sowjetskaja musyka“ und brach damit den Bann: „Seit der Uraufführung des neuen Violinkonzerts von Schostakowitsch ist bereits ein halbes Jahr vergangen, aber bis heute ist noch kein Artikel, keine Besprechung dieses hervorragenden Werkes erschienen..."

Von der Uraufführung gibt es leider kein (mir bekanntes) Tondokument. Mitte 1956 wurde aber von den gleichen Akteuren (David Oistrach mit den Leningrader Philharmonikern unter Leitung von Jewgeni Mravinski) eine wunderbare Aufnahme festgehalten. Von dieser genialen Melodiya-Aufnahme soll es mindestens 5 verschiedene CD-Versionen auf verschiedenen CD-Labeln (teilweise auch mit Quasi-Stereoverbreiterungen) geben. Ich habe diese hier bei Qobuz gefunden:

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In den USA fand am 29.12.1955 in der Carnegie Hall die Uraufführung im Westen statt - wiederum mit David Oistrach an der Geige. Ihm zur Seite standen (bzw. saßen ;-)) die New Yorker Philharmoniker unter der Leitung von Dimitri Mitropoulos. Aber erst das Konzert vom 2.1.1956 wurde zum ersten Mal für die Schallplatte aufgezeichnet - und berühmt.

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Tatsächlich gibt es aber auch noch einen Radiomitschnitt (?) / bootleg (?) vom Neujahrstag, also dem 1.1.1956, in der gleichen Besetzung.

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Und dies ist ein absoluter Tipp für Interessierte. Zumindest für die, die sich weder an Mono, noch am Bandrauschen oder am deutlichen Hüsteln der Zuhörer (ist ein wenig wie in der Köln Philharmonie 😇) stören. Diese Aufnahme ist derart energiegeladen, spannungsvoll, explosiv - unglaublich. Oistrach und Mitropoulos spielen wie in einem Rausch (wir würden heute Flow dazu sagen). Man spürt förmlich (oder ich deute dies heute so mit dem Wissen um die historische Bedeutung?!) das Drama, die Anspielungen, die Selbstbetroffenheit, die Angst, mit der Schostakowitsch dieses Stück komponiert hat.

Neben Oistrach gibt es noch einen weiteren russischen Geiger, der dieses Werk Maßstäbe setzend interpretiert hat - und hierzulande nach meinem Empfinden weniger bekannt ist: Leonid Kogan.

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Kogan geht die Sache einen Zacken schärfer als Oistrach an, der zum Wohlklang neigt. Leonid Kogan/ Kyrill Kondrashin gefallen mir als Alternativaufnahme außerordentlich gut. Insbesondere der scharfe, attackierend klare Ton Kogans steht im Kontrast zu dem fast schon üppig blühenden von Oistrach. Geht David Oistrach eher makellos an die Bitterkeit des Konzerts heran, so spielt Leonid Kogan dieses Werk dagegen ein wenig kühl - jedoch bringen beide die emotionalen Abgründe dieser Musik klar zum Ausdruck.

Kogans Schülerin, Viktoria Mullova, scheint mir diesen Interpretationsansatz in unserer Zeit erfolgreich zu vertreten - während auf der "anderen" Seite Lydia Mordkovitch, Schülerin von David Oistrach, dessen Interpretationssatz zu Grunde legt. Beide allerdings ohne ihre Lehrmeister lediglich zu kopieren.

PS: wer eine kurze und kurzweilige Einführung in dieses Werk (und andere) sucht, dem sei der Podcast "KlassikToGo" des NDR empfohlen!

Viele Grüße
Jörg
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