Franz Liszt hat 200ten Geburtstag

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Harmony hat geschrieben:What about the transcriptions of Franz Liszt Beethoven's symphonies for piano?

I know that they belong to Liszt best exercises for piano composition and playing but I don't know much about recordings of it with leading piano players. What's your idea about it. Do you have some examples?
I am very interested in it because I do very love Liszt and Beethoven pianoworks... :D
Hallo Joop,

the complete symphonies - you must buy the excellent recording with Cyprien Katsaris (jpc 6 CDs now only 16.99 Euro!):

http://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/ ... um/6636418

2 or 3 symphonies (Nr. 5 and Nr. 6 I think) recorded also Glenn Gould.

My best greetings to Rotterdam
Holger
Bild
Harmony
Aktiver Hörer
Beiträge: 71
Registriert: 22.11.2009, 21:22

Beitrag von Harmony »

Dear Holger,

Thanks for your reply!

I will certain buy this set of Liszt' s piano Beethoven symphonies. :D

Today I bought a new Deutsche Grammophone CD release of Lang Lang with Franz Liszt pianoworks.

The following works are here played:

- Hungarian Rhapsody
- Liebestraum "O lieb, so lang du lieben kannst" (live recording)
- Grande Fantasie de Don Juan (Don Giovanni W.A. Mozart) (live recording)

http://www.klassikakzente.de/lang-lang/

You will doubtless know these recordings from other CD's from Lang Lang....

Greetings from Rotterdam,

Joop
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Harmony hat geschrieben: You will doubtless know these recordings from other CD's from Lang Lang....
Hallo Joop,

yes - but (auf deutsch): nach dem völlig mißratenen Wiener Konzert ist mein Interesse für Lang Lang ziemlich abgekühlt. Der Starrummel, der um ihn veranstaltet wird, ist allerdings außergewöhnlich - und ziemlich peinlich!

Beste Grüße
Holger
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Franz Liszt: Klaviersonate h-moll

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Liszts große h-moll-Sonate – ein „intellektueller“ Interpret wie Alfred Brendel nennt sie die „wichtigste, originellste, gewaltigste und intelligenteste Sonatenkomposition nach Beethoven und Schubert“. Brendel spricht von einem „Werk „absoluter“ Musik“ als „Ergebnis einer absoluten Kontrolle der großen Form, einer Fusion von Überlegung und Weißglut“. Wie ich aus eigener Kongress-Erfahrung berichten kann, steht der Rang von Liszts großer Sonate auch bei durchaus Liszt-kritischen Musikwissenschaftlern heute außer Frage. Dies war jedoch keineswegs immer so. Im 19. Jahrhundert standen sich die Bewunderer Liszts und seine Verächter unversöhnlich gegenüber. Erst im 20. Jahrhundert wendet sich das Blatt, nicht zuletzt durch moderne Komponisten wie Bela Bartok, der zur Sonate h-moll meinte: „Formal ist das absolute Vollkommenheit (bei Liszt recht selten anzutreffen) und zugleich auch revolutionäre Erneuerung.“ Doch genau dieses Revolutionäre ist es, das die Rezeption zu Lebzeiten Liszts erschwerte. Die Sonate – obwohl Liszt ihr kein „Programm“ mitgegeben hat – wurde zum Zankapfel des Parteienstreites zwischen den „Neudeutschen“, der „Fortschrittspartei“ von Wagner und Liszt einerseits und den Konservativen, Formalisten und Klassizisten andererseits, der „Brahmspartei“, deren führender Kopf der Wiener Musikkritiker und Ästhetiker Eduard Hanslick war. Richard Wagner lobte Liszts Sonate als „über alle Begriffe schön, groß, liebenswürdig, tief und edel – und mit Blick auf die Person, seinen Freund Liszt gesprochen „erhaben, wie Du bist“. Dagegen fand Clara Schumann, die Ehefrau des Komponisten Robert Schumann, selbst eine bedeutende Pianistin ihrer Zeit, Liszts Werk „schaurig“: „Brahms spielte sie mir, ich wurde aber ganz elend ... Das ist nur noch blinder Lärm – kein gesunder Gedanke mehr, alles verwirrt, eine klare Harmoniefolge ist da nicht mehr herauszufinden!“

Hanslick schreibt 1881 über eine Aufführung der Sonate durch Hans von Bülow, dem Wagner-Freund und Großvater von „Loriot“ (Vico von Bülow), der sie 1857 uraufgeführt hatte und für seine pianistische Leistung hoch gelobt wurde, es könne „durch Worte keine Vorstellung von diesem musikalischen Unwesen geben. Nie habe ich ein raffinierteres, frecheres Aneinanderfügen der disparatesten Elemente gehört, nie ein so wüstes Toben, einen so blutigen Kampf gegen alles, was musikalisch ist.“ Das Werk sei von einer „unausbleiblichen Komik“ in seinem „Ringen nach Unerhörtem, Colossalem“. Hanslick vernimmt hier das „athemlose() Arbeiten einer Genialitäts-Dampfmühle, die fast immer leer geht“ und meint verächtlich über den Pianisten: „Wenn Bülow das Publikum gleich anfangs von der schauerlichen Impotenz Liszts überzeugen wollte, so konnte er keine bessere Wahl treffen.“ Für Hanslick hört hier „jede Kritik, jede Diskussion auf. Wer das gehört hat und es schön findet, dem ist nicht zu helfen.“

Die Kritik des Kolossalstils – deutlich wird hier die Fehde Hanslicks mit seinem Antipoden Richard Wagner: Wagner hatte in seiner Beethoven-Schrift von 1870 gegen das „Musikalisch-Schöne“ Hanslicks das „Musikalisch-Erhabene“ ausgespielt und den „Formalisten“ Oberflächlichkeit und mangelnde Ausdruckstiefe vorgehalten. Für Hanslick dagegen ist im Gegenzug jeder Versuch, die klassische Form durch das Erhabene zu sprengen, pure Wirkungsrhetorik und nichts als großspuriger, leerer Pomp. Liszts Sonate gerät hier also zum Opfer in einem Grundlagenstreit musikalischer Ästhetik, der von den Beteiligten ganz ungeniert als ein Krieg der Weltanschauungen ausgetragen wird. Dass Liszt alles andere als ein kompositorischer Stümper war, hat die analytische Musikwissenschaft längst vielfach erwiesen. Sein Kompositions- und Theorielehrer in Paris war kein geringerer als Anton Reicha, einer der bedeutendsten Musiktheoretiker seiner Zeit. So weist Michael Heinemann anhand des Autographs und den daraus ersichtlichen Ausführungen und Umarbeitungen nach, dass sich Liszt etwa in der Fuge darum bemühte, die Vorgaben Reichas in bezug auf die Form einer „phrasierten Fuge“ genau zu befolgen.

Die Rezeptionsschwierigkeiten kommen letztlich daher, dass Liszt den ambitionierten Versuch unternahm, der klassischen Sonate gleichsam einen neuen Geist einzuhauchen. Nicht nur, dass die 30 Minuten in Anspruch nehmende h-moll-Sonate die Mehrsätzigkeit aufgibt und als ein einziger, zusammenhängender Satz komponiert ist. Liszt hat ganz bewusst – wie dies zuerst William Newman entdeckte – die Abfolge eines Sonatensatzes (Exposition, Durchführung, Reprise) mit derjenigen der Satzfolge einer Sonate (Sonatenallegro, langsamer Satz, Scherzo und Schlussrondo) überblendet. Das Vorbild war hier die „Wandererfantasie“ von Franz Schubert, die Liszt nicht nur im Konzert spielte, sondern auch für Klavier und Orchester transkribierte. Die Folge ist, dass es kein einfaches Sukzessionsschema mehr gibt, keinen „roten Faden“, dem der Hörer folgen könnte. Alles wird mehrdeutig, gewissermaßen formal überdeterminiert. Diese – natürlich gewollte – Komplexität und Unübersichtlichkeit war es letztlich, welche bei den „Klassizisten“ den Eindruck des ungeordneten Chaos hervorrief.

Was ist nun der Sinn einer solchen ungeheuren und ungeheuerlichen Komplexierung der Form, wie sie sich in Liszts h-moll-Sonate findet? Die musikwissenschaftliche Literatur bleibt, was die Beantwortung dieser zentralen Frage angeht, doch einigermaßen enttäuschend. Etwas ironisch kann man anmerken: So viele musikwissenschaftliche Analysen es gibt, so viele „Formen“ scheint die h-moll-Sonate zu haben. Der französische Liszt-Experte Serge Gut hat diese verwirrenden Schematisierungsversuche einmal aufgelistet: Die „Einleitung“ endet bei manchen in Takt 7, bei anderen erst Takt 31. Wieder andere beginnen schon in Takt 1 mit der Exposition, es gibt somit gar keine Einleitung. Doch wie weit reicht wiederum die Exposition? Die Angebote: Takt 170, Takt 178, Takt 330, Takt 346. Die Durchführung, ihr Anfang und Ende, ist entsprechend unbestimmt. Die Vorschläge lauten (für das Ende): Takt 330, 459, 532 usw. usw. Aus all dem wird nur eines klar: Dem nicht primär an kompositionstechnischen, sondern eher an ästhetischen Fragen Interessierten wie auch dem Musikliebhaber, der sich irgendwie den „Sinn“ dieses rätselhaften Sonatengebildes nahe bringen will, gibt all das keine wirklich hilfreiche Orientierung.

Man tut deshalb gut daran, sich an Liszts Selbstäußerungen zu orientieren. In einem Brief (9.7.1859 an Louis Köhler) bemerkt er, man solle die „Form“ nicht mit einer „Formel“ oder „Floskel“ verwechseln, deren Primitivität nur den einen – pragmatischen und denkökonomischen – Sinn hat, „am leichtesten fasslich sein zu müssen.“ Liszt bittet angesichts dessen bescheiden „um die Erlaubnis, die Formen durch den Inhalt bestimmen zu dürfen“. Es geht ihm um die Komposition von „Ideen“, ihre Durchführung und Bearbeitung – „und das führt uns immer auf das Empfinden und Erfinden zurück, wenn wir nicht im Geleise des Handwerks herumkrabbeln und zappeln wollen.“

Hans von Bülow, der die Uraufführung am 22. Januar 1857 besorgte, gibt den Geist von Liszt, seinem Anliegen einer Befreiung der Form vom Schematischen in dem Versuch, ihr einen Inhalt und Ausdruck zu geben, kongenial wieder: In der „freien Form“ Liszts „ein Schema abstrahiert haben zu wollen“, stehe mit der „Idee im Widerspruch“. „Liszts Schule will nicht blos, sie lehrt die künstlerische Emancipierung des individuellen Inhaltes vom Schematismus. Wo anderwärts Erstarrung, ist hier Leben, wo anderwärts Eintönigkeit, ist hier Mannichfaltigkeit.“ Weiter spricht Bülow aber nicht nur von dieser lebensspendenden Komplexität, sondern bewundert zugleich die „unantastbarste Logik“ und „bewundernswertheste Oekonomie“ von Liszts Formgestaltung.

Doch was ist nun der Inhalt dieser Sonate? Unter dem musikalischen Inhalt versteht Liszt eine „poetische Idee“, die er auch das „Programm“ eines Musikstücks nennen kann. Bei Liszt wird jedoch klar, dass für ihn das „Programm“ keineswegs die klägliche Rolle einer durch die literarische Quelle vorgegebenen Krücke spielt, um musikalische Formlosigkeit zu kaschieren, wie es die „Formalisten“ gerne böswillig unterstellen: Das Programm verkörpert eine „Idee“, welche mit dem Inhalt des Tonstücks identisch ist. Es handelt sich bei dem poetischen Programm also um eine zusammenhängende Geschichte, welche die Musik selber erzählt und zwar durch ihre Form! Form und Inhalt bilden bei Liszt keinerlei Gegensatz – sie müssen sich stets wechselseitig erläutern. Immer wieder – vermittelt vor allem durch Liszts Schüler, etwa Martin Krause, den Lehrer von Claudio Arrau – ist die h-moll-Sonate in diesem poetisch-programmatischen Sinne als eine Art Faust-Symphonie für Klavier gedeutet worden. Die Sonate zeichnet ihre „dramatische“ Form aus, welche – um es vereinfacht zu sagen – einen zentralen Konflikt schildert, seine Austragung, Entwicklung und schließlich Versöhnung. Die Faust-Thematik verdeutlicht dieses Konfliktpotential durch subjektive Sinngebung: Zum Ausdruck kommt so das Seelendrama einer zutiefst gespaltenen Persönlichkeit – Faust – an der verschiedene Kräfte gleichsam zerren: einmal seine Allmachtsphantasien, aber auch der Zweifel, seine Versuchung im Pakt mit dem Teufel, seine Liebe und die mit ihr verbundene Verführung und schließlich die Sehnsucht nach Vergebung und Erlösung. Die „Formwidrigkeiten“ der Sonate, ihre jedes Schema sprengende Ausdehnung und Komplizierung, wie sie in der unklassischen Charakterlosigkeit und Vervielfältigung der Themen aber auch in der rein formal nicht zu ergründenden Bedeutung bestimmter Formabschnitte zum Vorschein kommt, sie werden letztlich nur von dieser Faust-Thematik her verständlich. Die Beziehung zum „Faustischen“ ist in der Tat kaum zu verkennen. Da ist einmal das Mephisto-Thema oder -motiv, das gleich zu Beginn Takt 13 in Erscheinung tritt. Mit seinem pochenden, insistierenden und zugleich unruhig vorwärtstreibenden Staccato erinnert es an den Mephisto-Walzer Nr. 1. Dies kann kein Zufall sein, denn Liszt fordert von der Musik mit poetischem Inhalt neben dem Programm eine „charakteristische Melodie“ – also eine mit sprachdeutlicher Bestimmtheit. Für das „Mephistophelische“ hat er offenbar eine idiomatische Vokabel geprägt, die er in verschiedenen Werken benutzt. Zudem entfacht das Mephisto-Thema in der Fuge eine Art Höllentanz. Serge Gut versteht diesen Abschnitt als die Entfachung „von frenetischer Raserei“, die „in eine Art höllischen Hexenreigen ausartet, vermittels dessen der teuflische Geist versucht, die Vision der Erlösung durch die Liebe aus der Vorstellung Faust-Liszts zu verjagen.“ Dafür spricht, dass die vollkommene Ruhe, mit der die „Durchführung“ endet, dem ruhelosen Vorwärtstreiben des Mephisto-Themas weichen muss. Alfred Brendel fragt hier nach und enthüllt in seiner Frage den mephistophelischen Geist der Verneinung in der Formwidrigkeit der falschen Tonart:

„Faust und Mephisto erscheinen tatsächlich: das Fugato-Thema spannt beide Charaktere zusammen. Die Konstellation des Sonatenbeginns ist wieder da, die Voraussetzungen für eine Reprise scheinen gegeben. Aber warum hüpfen Faust und Mephisto auf Zehenspitzen vor uns herum? Wozu der sarkastische Flüsterton? Im Geist der Verneinung sind sich die beiden offenbar einig; aber was wird musikalisch verneint? Es kann sich nur um die Grundtonart h-moll handeln, in der die Reprise klassischerweise beginnen sollte. In Wirklichkeit steht das Fugato nämlich in der „falschen“ Tonart b-moll, einen Halbton zu tief.“

Gleich die Exposition der Themen in den ersten Takte der Sonate zeigt exemplarisch, wie Liszt den Schematismus der Form überwindet und den Eindruck eines lebendigen Organismus hervorruft durch das Erzeugen von Mannigfaltigkeit wie auch einer durchgängigen, fließenden Bewegung, ein Inhalt, der in unaufhörlichem Wandel begriffen ist. Die Tempobezeichnungen (Takt 1 Lento assai und Takt 8 Allegro energico) weisen auf einen formalen Einschnitt hin: Einleitung und Exposition. Und in der Tat: Der stockende und zögernde Beginn mit seiner Unschlüssigkeit und Orientierungslosigkeit – Brendel sieht in den „akzentuierten Pausen“, der absteigenden Skala ohne harmonischen Halt, zuerst die phrygische, dann die Zigeunertonleiter, faustische „Urfragen, Urzweifel“ formuliert – kontrastiert mit dem entschieden-energischen Auftreten des Faust-Themas. Doch von der Charakterfestigkeit eines klassischen Themas, das exponiert wird, ist es weit entfernt! Statt Einheit gibt es Mannigfaltigkeit, statt Identität Ambivalenz: Von einem Sonatenthema im klassischen Geiste erwartet man Geschlossenheit: Zwei Halbsätze, die sich komplementär zu einem Ganzen ergänzen. Bei Liszt gibt es zwar Komplementarität der Charaktäre, aber keine Ergänzung: Der zweite Halbsatz formuliert das Mephisto-Motiv, das durch lange Pausen abgetrennt (!) einen völlig selbständigen Gedanken verkörpert, der in seiner Binnendynamik zudem über sich hinausdrängt, so, als fühle er sich eingezwängt in die Periode gar nicht wohl. Zudem wird auch die Themensetzung in Frage gestellt durch den Bezug auf das Einleitungsthema: Absteigender und aufsteigender Gestus, skeptische Unsicherheit und stolze Entschiedenheit, das ist eine Komplementarität auf thematisch-inhaltlicher Ebene, welche die formale Zäsur von Einleitung und Exposition überbrückt. Schon hier also schafft Liszt Mehrdeutigkeit durch Überblendung: Eine Einleitung mit Expositionscharakter bzw. Exposition mit Einleitungscharakter, welche drei Gedanken formuliert, die alle eng zusammengehören, obwohl in ihrer Aussage völlig disparat: Heterogenität als Ausdruck gespaltener Identität. Dazu kommt die Harmonik, welche, statt „klassisch“ die Erfassung einer Formarchitektur zu stützen, diese gerade verwischt. Handelte es sich um eine klassische Sonatenexposition, dann müsste die Setzung der Tonika mit der des Hauptthemas zusammenfallen. Bei Liszt aber ereignet sie sich – wie Heinemanns Analyse es aufdeckt – quasi „unscheinbar“ im musikalischen Verlauf einer Überleitung (!), was die Wahrnehmung eines durchgängigen Fließens, also eines Kontinuums, erzeugt. Hier enthüllt sich zum nicht unerheblichen Teil das Geheimnis, warum Liszts Sonate den Eindruck bruchloser Geschlossenheit und logischer Stringenz hervorruft: Die Musik fließt „aus einem Guß wie ein Sturzbach, der sich über uns ergießt und sich unser bemächtigt“ (Serge Gut).

Warum jedoch gefährdet die Heterogenität des thematischen Materials, das Aufbrechen von geschlossenen Perioden in selbständige Motivkomplexe wie auch die Multiplikation der Themen nicht die Identität und dramatische Geschlossenheit? Dafür sorgt nicht zuletzt Liszts „revolutionäres“ Verfahren der „Thementransformation“, das moderne Komponisten wie Alexander Scriabin oder Bela Bartok von Liszt gelernt und übernommen haben. In seinem Nachwort zur Faksimile-Ausgabe der h-moll-Sonate von 1973 schreibt Claudio Arrau über die Neuartigkeit der „motivischen Arbeit“ bei Liszt: „aus einem einzigen Motiv entwickelt sich der Aufbau des gesamten Werkes“. Liszt kann durch die Ableitung der Vielheit aus der Einheit also nicht nur ungestraft die Themen vervielfältigen, sondern überzieht das ganze Werk mit einem dichten Assoziationsgeflecht, wo alles mit allem verwandt erscheint. Der Interpret und Hörer wird auf diese Weise geradezu eingeladen, nach „Beziehungen“ zu suchen, die nahezu unerschöpflich sind. Vor allem erlaubt dies aber, das Mannigfaltige zum Aspekt eines Charakters werden zu lassen und ihm damit Lebendigkeit und psychologische Komplexität zu verleihen. Die Charaktere der Themen zeigen sich auf diese Art wie stets neue Masken, welche sich das Subjekt aufsetzt, in immer wieder anderen Rollen schlüpft und sich darin zugleich verbirgt mit der Möglichkeit ironischer Verstellung. Das mit cantando expressivo überschriebene Thema Takt 154 schmeichelt ungemein – aber verrät sich eben auch als Transformation des bohrenden Mephisto-Motivs. Schmeichelt sich hier etwa der Teufel ein wie ein verführerischer Wolf im Schafspelz?

Heterogität und Mehrdimensionalität in den formalen und thematischen Bezügen – sie spiegelt sich schließlich auch in der Sinndeutung durch die Interpreten von Liszts Sonate. Lohnend ist es hier, die Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede herauszustellen. Serge Gut interpretiert die h-moll-Sonate als psychologisches Drama, es geht „um Liszts Seele mit ihren Kämpfen und Qualen in ihrer tiefen Gespaltenheit“. Mit Peter Raabe sieht er als Grundzug des Mephistophelischen den „Fluch der Ruhelosigkeit“ an. Die musikalisch-faustische „Handlung“ kreist also darum, hin und hergerissen zwischen Gott (dem „Grandioso-Thema“) und dem Teufel endlich Ruhe zu finden. Die h-moll-Sonate, sie wird so gesehen als ein faustisch-romantisches Sonatendrama, die Verzweiflung des in der Welt umhergetriebenen, ruhelosen Pilgers, der einen heimatlichen Ort sucht. Diesen Ort der Ruhe und Stille glaubt er in der Liebe zu finden, wofür das mit Andante sostenuto überschriebene Liedthema Takt 333 ff. steht – wie ich es deuten würde formal und zugleich thematisch fixiert in der Überblendung des Seitenthemas mit dem langsamen Satz in der Satzfolge, welche den Charakter der Ruhe verstärkt: nicht nur als Kontrast, sondern zugleich als Zentrum. In der Auslegung des Andante sostenuto trifft sich Gut mit Alfred Brendel, wenn er dort mit Goethe das „Ewig-Weibliche“ in Erscheinung treten sieht, das zur Erlösung, zum Himmel führt. Doch Uneinigkeit zwischen beiden herrscht, ob dieses Thema Gretchen verkörpert oder nicht vielmehr schon das cantando expressivo beginnend Takt 154. In der Fuge – so Guts Deutung – gelingt es dem mephistophelischen Geist der Ruhelosigkeit jedoch, diese Vision der Ruhe zu vertreiben. In den nachfolgenden Abschnitten der Reprise kommt es deshalb zum Kampf. Nach Gut besteht der „Sieg“ der Liebe und Ruhe darin, dass die Ruhelosigkeit „bezähmt“ wird. Dies kommt schließlich zum Vorschein in der Coda, wo sich das bohrende Mephisto-Motiv gleichsam atmosphärisch verflüchtigt, in den Himmel gehoben wird. Die Einleitung der h-moll-Sonate beginnt mit dem leisen Urzweifel und der Skepsis – und genau in diesen skeptischen Anfang läuft das in der Stille versinkende Ende schließlich zurück, der Schluss bleibt also ein gebrochener. Dazu Claudio Arrau im Gespräch mit Joseph Horowitz:

J.H.: „Wie verhält es sich mit der allerletzten Seite nach dem letzten Höhepunkt?“

C.A.: „Dort muß man darauf achten, dass das Mephisto-Thema in der linken Hand nicht zur Bedeutungslosigkeit absinkt. Ich wende kleine rhythmische Verzerrungen an, pianissimo. Und dann kommt das endgültige mephistophelische Thema, aber diesmal mit einem Dis statt einem D (Takt 738). Es ist unglaublich, wie all die Niederträchtigkeit verwandelt wird. Durch eine Note.

J.H.: „Was halten Sie von der allerletzten Note des Stückes, dem tiefen H, das Sie so unvermutet spielen?“

C.A.: „Die ganze Vision ist wie mit einem Schlage ausgelöscht.“

J.H.: „Ist es so, als würde man aus einem Traum erwachen?“

C.A.: „Genau.“

Der nahezu unerschöpfliche Beziehungsreichtum von Liszts Sonate fordert unterschiedliche Deutungen geradezu heraus, wie sich dies exemplarisch zeigt im Falle der Auffassungen des Recitativo durch Claudio Arrau und Alfred Brendel. Zunächst Brendels hermeneutische Analyse:

„b) Rezitativ, das schon mit den cis-moll-Akkorden (fff pesante, Takt 297) beginnt. Ins Unerbittlich-Drohende gewendet, gebietet der Themenkopf des Grandioso-Themas 4 dem Drängen der Exposition Einhalt. Faust reagiert darauf in freier Krebs-Variante. (Sein Hadern mit dem Schicksal darf nie in weinerliches Selbstmitleid degenerieren! Das in beiden Händen vorgeschriebene Forte wird oft missachtet. Es ist solche Larmoyanz, die Liszt in Verruf bringt.)

Ein langer, mephistophelischer Orgelpunkt auf h, über dem der Widerstand Fausts erlischt, beschließt diesen zerklüfteten, von Pausen durchbrochenen Abschnitt. Wir stehen auf der 5. Stufe in e-moll.”

Nun Claudio Arrau:

J.H.: „Was geschieht an den beiden Recitativo-Stellen (Takte 301 und 306)?“

C.A.: „Das sind die beiden menschlichen Wesen Faust und Gretchen, die darum flehen, verstanden und verschont zu werden.“

J.H.: „Wie unterscheidet sich das zweite Recitativo vom ersten?“

C.A.: „Es spricht größere Verzweiflung aus ihm. Sehen Sie, hier verliert Mephisto an Boden. Zuerst sind die pesante-Akkorde in der Quartsextlage zynisch, sarkastisch. Das zweite Mal, mit den Akkorden in der ersten Lage, klingen sie drohend – Mephisto zieht sich etwas zurück. Und von hier an wird er durch die Kraft der inständigen Bitten immer schwächer. Auf der folgenden Seite darf die Intensität des Flehens nicht abnehmen, trotz des Diminuendos. Die beiden letzten Akkorde vor dem zweiten Satz klingen wie Seufzer. Und die Länge der Fermate (Takt 330) ist sehr wichtig. Dann im zweiten Satz verherrlichen Faust und Gretchen die Liebe. Das muß wirklich ekstatisch klingen.“

Die Charakteristik der Themen erfassen Brendel und Arrau auf nahezu gleiche Weise: Das fff pesante wird als überwältigende Bedrohung wahrgenommen, auf welche das hilflose Subjekt reagiert. Doch die Zuschreibungen des Sinnes sind grundverschieden: Brendel sieht hier das Grandioso-Thema, dessen Allmachtsfantasien zur Beängstigung und existenziellen Krise werden, Arrau erblickt in der Verkürzung des Motivs die Thementransformation, und entsprechend im Sinnbild göttlicher Allmacht die Maskierung Mephistos: das „Pochen“ dominiert, verdrängt die großspurig-erhabene melodische Linie. Aber mehr noch: Arrau personalisiert den Konflikt, weist ihn dramatischen Akteuren zu (Faust, Gretchen und Mephisto), während Brendel hier einen Ausdruck faustischen Ringens zu erblicken glaubt. Arraus Interpretation erweist sich damit mehr „programmatisch“, am „Mythos“, der Erzählung der Faustdichtung, orientiert, während Brendel die Faustszene „symbolisch“ nimmt als Zeichen für den inneren Konflikt eines Subjekts. Das zeigt sich auch in der Deutung des Grandioso-Themas: Für Arrau stellt es „natürlich die Majestät des Allmächtigen dar“. Brendel dagegen: „Das Wort grandioso ist für dieses Thema nicht zu hoch gegriffen. Wollte man die Illusion der unbeschränkten Macht, des Zäsarenwahns, musikalisch darstellen, so wäre dies hier hinreißend gelungen.“ Wird das Faustische zum Zeichen des „inneren“ Konfliktes des faustischen Subjekts, dann kann die Allmacht eben als maskierte Allmachtsfantasie, als Zeichen von „Zäsarenwahn“ erscheinen, eines stolzen faustischen „Ich“, das seine Schöpferkraft mit derjenigen Gottes verwechselt.

Wer hat nun letztlich Recht? Ich glaube, dass man diese Frage mit Liszt gar beantworten kann, soll und darf. Wenn das Eindeutige mit systematischer Konsequenz mehrdeutig gemacht wird, dann verliert es die Festigkeit eines reproduzierbaren Sinnes und provoziert geradezu die Deutungsaktivität und -vielfalt. Wollte Liszt auf diese Weise vielleicht ganz bewusst die Individualität auch des Interpreten „emanzipieren“, indem er ihn am Sinngebungsprozess der Komposition aktiv beteiligt?

Verwendete Literatur: Serge Gut: Franz Liszt (Musik und Musikanschauung im 19. Jahrhundert, Sudien und Quellen hrsgg. v. Detlev Altenburg), Studiopunkt-Verlag Sinzig 2009

Michael Heinemann: Franz Liszt, Klaviersonate h-moll, Fink-Verlag München 1993 (Reihe Meisterwerke der Musik, hrsgg. v. Stefan Kunze).

Claudio Arrau: Liszt als Lehrer, Pianist, Komponist, Gespräch mit Joseph Horowitz (1980) (Beilage zur LP (Philips)).

Alfred Brendel: Überlegung und Weißglut, Klappentext CD Philips (Sonate h-moll, Trauergondeln I & II, Legenden).

Beste Grüße
Holger
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Nachtrag und Korrektur: Wenn man die Familienchronik der von Bülows nicht studiert hat, einem alten mecklenburgischen Adelsgeschlecht ... Es gibt wohl einen Hans von Bülow unter den direkten Vorfahren von Vico, darauf wurde ich hingewiesen, jedoch ist der nicht identisch mit dem Pianisten und Dirigenten gleichen Namens. In einer Quelle, die ich gefunden habe, wird der Musiker Hans als „entfernter Verwandter“ von Loriot ausgemacht. Aber Vico hat immerhin die „Hans von Bülow Medaille“ verliehen bekommen, welche die Berliner Philharmoniker zu Ehren ihres ersten Chefdirigenten vergeben. Darüber dürfte sich „Loriot“ besonders gefreut haben! :cheers:

Beste Grüße
Holger
Bild
musikgeniesser
Aktiver Hörer
Beiträge: 1391
Registriert: 23.03.2011, 19:56
Wohnort: 22149 Hamburg

KLARE KAUFEMPFEHLUNG

Beitrag von musikgeniesser »

Moin Forenten,

ui, Liszts Beethoven komplett für nicht einmal 20 Euro, da kann ich ja froh sein, dass ich damals die damals einzig verfügbare Hochpreis-Edition in "meinem" Gebraucht-CD-Laden gekauft habe...

Die Kunden bei Amazon sind des Lobes voll. Dem schließe ich mich an. 20 Euro sind ein Wort: klare Kaufempfehlung!

Herzliche Grüße

PETER
Bild
Franz
inaktiv
Beiträge: 4422
Registriert: 24.12.2007, 17:07
Wohnort: 53340 Meckenheim

Beitrag von Franz »

Hallo Holger,

mal ein Riesenlob und Bewunderung an dieser Stelle: Du hast ein gar profundes Wissen in diesem Bereich. Auch wenn ich kein "Klassik-Kenner" bin, so kann ich doch deine Ausführungen als Bereicherung, ja Vertiefung eines Themas verstehen. Ganz toll, was du da machst. :cheers:

Gruß
Franz
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Hallo Franz,

es freut mich immer, wenn ich zum Musikhören auf diese Weise "verführen" kann! Eigentlich wäre das etwas für einen Musikabend mit Vorführung. Das habe ich früher auch schon gemacht. Im Moment stecke ich in den letzten Zügen meiner Habil. und in dem Rahmen habe ich mich intensiver mit Liszt beschäftigt - mit Bezug auf das Ausdrucksproblem. Die h-moll Sonate wird heute auf so vielen Wettbewerben verhunzt, zur Klavieretüde und Demonstration von virtuoser Fingerfertigkeit reduziert. So hört man sie sich leid. Das andere Extrem: Die "Formalisten", dann wird es steril. Man muß diese Musik mit Leben füllen, bei Arrau geschieht das, da atmet jede Note, das ist alles hochexpressiv. Dazu braucht man aber diese poetische Dimension, den Sinn für das "Faustische" und "Mephistophelische". :cheers:

Schöne Grüße
Holger
Bild
Harmony
Aktiver Hörer
Beiträge: 71
Registriert: 22.11.2009, 21:22

Beitrag von Harmony »

Another Liszt review from Kaletha:

http://www.aktives-hoeren.de/viewtopic.php?f=17&t=44
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Harmony hat geschrieben:Another Liszt review from Kaletha:

http://www.aktives-hoeren.de/viewtopic.php?f=17&t=44
Besten Dank! Volodos Liszt-CD ist eine unbedingte Empfehlung wert - auch wenn sie schon vor dem Liszt-Jahr erschienen ist! :D

Beste Grüße
Holger
Bild
Harmony
Aktiver Hörer
Beiträge: 71
Registriert: 22.11.2009, 21:22

Beitrag von Harmony »

Another NEW 2011 CD release of the Franz Liszt pianoconcertos in the Eloquence serie :D

Liszt is magnificent played here in a more sensible French style by Jean Yves Thibaudet and the Orchestra Symphonique de Montréal, conductor Charles Dutoit, . The recording is of excellent quality!
Specially the 'Totentanz' S 123 is a highlight on this CD. Liszt is really a great composer with these pieces of music. The price is a bargain €5,99 :D

Grüße

Joop

http://www.klassikakzente.de/musik/musi ... 2-u-a-elo/
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Harmony hat geschrieben:Another NEW 2011 CD release of the Franz Liszt pianoconcertos in the Eloquence serie :D

Liszt is magnificent played here in a more sensible French style by Jean Yves Thibaudet and the Orchestra Symphonique de Montréal, conductor Charles Dutoit, . The recording is of excellent quality!
Specially the 'Totentanz' S 123 is a highlight on this CD. Liszt is really a great composer with these pieces of music. The price is a bargain €5,99 :D


Hallo Joop,

I bought this CD last year I think in a 2001-shop, Price: 1 or 2 Euro! Very good! :cheers:

Beste Grüße
Holger
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Liszts Lieder

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Mit Schubert teilt Liszt das Schicksal einer sehr selektiven Wahrnehmung seines Werkes: Von Schubert wollte man nur den „holden Liedsänger“ wahrnehmen, von seinen Symphonien und Klaviersonaten dagegen nichts wissen. Bei Liszt ist es der Klaviervirtuose, den man kennt, dafür ist der Symphoniker Liszt praktisch nicht existent und der Liedkomponist mehr oder weniger ein „Exot“ im Repertoire. Erst allmählich ändert sich das – völlig zu Recht! Liszts Lieder stellen freilich an den Sänger höchste Anforderungen, und gerade das macht es ihnen nicht leicht. Sie passen in keine Kategorie, changieren zwischen klassischem Kunstlied und einem musikdramatischen, „ariösen“ Stil, den man von der Opernbühne kennt. Der Sänger muss hier die rechte „Mitte“ treffen – er darf diese von der italienischen Oper inspirierten Töne nicht unterschlagen, zugleich aber auch nicht „theatralisieren“, und damit den Charakter des Kunstlieds zerstören.

Die Verbindung des Liedgesangs zu Liszts Instrument, dem Klavier, ist eng. Nicht nur wird das Klavier zum gleichwertigen Partner, viele seine Lieder hat Liszt auch als „Lieder ohne Worte“ für Klavier umgeschrieben, so die drei Liebesträume und die Petrarca-Sonnette. Es lohnt wahrlich, sich in diesen Liederkosmos einzuhören, denn gerade hier kommt die ungeheure Vielfalt von Liszts musikalischem Schaffen zum Vorschein. Hochromantisches steht da neben bis aufs Äußerste reduzierter Ausdrucksmusik, die vorausweist auf Expressionismus und Moderne. Seine Begeisterung für Ungarn aber auch seine eigene Künstlerexistenz eines reisenden Virtuosen spiegelt „Die drei Zigeuner“, fahrende Gesellen ohne Heimat, die auf das Schicksal „pfeifen“, ganz für den Augenblick leben. Das Thema „Liebe“ zieht sich durch, die nicht etwa nur romantisch verklärt, sondern in ihrer zerstörerischen Kraft gezeigt wird wie im Petrarca-Sonnett „Pace non trovo“, „Den Frieden finde ich nicht“. Die Musik befreit hier den destruktiven Gehalt aus den Fesseln der schön-geordneten Form. Zu den „modernsten“, auf das 20. Jahrhundert vorausweisenden Liedkompositionen gehört zweifellos das Melodram „Der traurige Mönch“ mit seiner kühnen Harmonik. „Die Glocken von Marling“, Liszts letztkomponiertes Lied, betört durch eine schwebend-impressionistische Harmoniebildung, die Debussy vorwegnimmt.

Besonders faszinierend sind die verschiedenen Fassungen einzelner Lieder, die Liszts sich wandelnde Auffassung zeigen. Die frühen Fassungen sind besonders stark „einfühlende“ Vertonungen, welche den „Inhalt“ musikalisch umsetzen, der sich gerade nicht aussprechen lässt. Hier zeigt sich geradezu exemplarisch das Charakteristische einer „romantischen“ Liedvertonung, wonach die Musik die Aussage des Textes und auch seine Form nicht einfach verdoppeln soll, sondern sich gerade an das Ungesagte und mit Worten Unsagbare hält. Liszt bringt darüber hinaus sich selbst ein, vertont gewissermaßen mit, wie die Worte des Gedichtes auf ihn wirken. Das möchte ich an drei Beispielen kurz darstellen – und hier ist es zudem besonders reizvoll, Liszts Vertonungen mit denen Schuberts und Hugo Wolfs zu vergleichen.

Zunächst „Wanderers Nachtlied“ (II) von Goethe

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Youtube –Videos:

Liszt:

http://www.youtube.com/watch?v=hB17gpSplRc

Schubert:

http://www.youtube.com/watch?v=N7_uqxAb6BU


Ein exemplarisches Beispiel für Liszts Art der „subjektivierenden“ Vertonung! Zunächst dominiert der choralhafte Ton, der eine fast schon kirchlich-feierliche Stimmung erzeugt. Liszt versucht offenbar den Eindruck des Stillstandes aller Bewegung musikalisch zu erzeugen – die Singstimme macht kaum Bewegung, kreist um denselben Ton, und wenn sie ausschweift wie bei dem Vögeln im Walde, dann wirkt das merkwürdig traumhaft, also auch hier ist die Bewegung nicht real, sondern irreal. Was macht er aber aus den beiden letzten Zeilen! Das „Warte nur“ interpretiert die Musik als das Erwachen eines innerlich unruhigen Strebens und Verlangens – das wird nun aufwendig in Szene gesetzt, mit der Ruhe ist es vorbei – die beiden schlichten Schlusszeilen werden durch die Vertonung entsprechend aufgewertet, bekommen Gewicht durch Wiederholungen, welche hier Ausdruck der Dynamisierung sind. Entsprechend muss dann zum Ende die Ruhe ebenso musikalisch aufwendig hergestellt werden – da findet Liszt einen „impressionistischen“ Ton, der sich wahrlich wie Debussy anhört. Die Vertonung hat also eine dynamische Dramaturgie, es gibt einen Spannungsbogen von Ruhe, Bewegung (Aufwallung von Leidenschaft), Ruhe (Beruhigung). Liszt interpretiert damit die Naturschilderung als Kontrast zur inneren Befindlichkeit des lyrischen Ich: Die Natur ruht in Frieden, dem steht jedoch die innere Aufgewühltheit des Subjekts gegenüber, das seine Ruhe in dieser Natur erst noch zu finden sucht. Es werden die inneren Vorgänge, die das Gedicht selber gar nicht ausdrückt (beim schlichten „Warte nur, balde...“) durch die Musik zum Ausdruck gebracht, das verborgene Seelendrama gewissermaßen. Die Musik gibt sich als Interpretation des Textes, welche das Verborgene, Verschwiegene, nur Angedeutete zum Vorschein bringt.

Ganz anders Schuberts Vertonung! Auch sie wiederholt die Schlusszeilen um damit die „zentrale“ Aussage musikalisch zu unterstreichen. Für die Romantiker Schubert und Liszt ist das keine naive, gleichsam „touristische“ Schilderung eines Naturerlebnisses, sondern etwas Hochsymbolisches: Die Befindlichkeit des unruhigen Wanderers, der als ein Fremder, ein „Pilger“ durch die Welt zieht und in diesem Sinne darauf „wartet“, in der Natur als göttlichem Ort Ruhe und inneren Frieden endlich zu finden. Doch anders als bei Liszt vermittelt Schuberts keine „Stimmung“ der Ruhe, dafür ist seine Melodik viel zu bewegt. Zugleich ist sie aber auch „klassischer“, verzichtet auf jede dramatische Aufladung.

Mignons Lied (Goethe)

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl? Dahin! Dahin
Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!

Liszt:

http://www.youtube.com/watch?v=bPl2t71cpIM

Schubert:

http://www.youtube.com/watch?v=wjIPXz2IRSI

Wolf:

http://www.youtube.com/watch?v=_CWghPVhhqw

Das Lied ist Ausdruck der „Italienbegeisterung“ der Klassik. Liszt orientiert sich hier sehr genau und einfühlsam an der Form des Gedichts. Das wiederholte „Kennst du...“ hat die Form einer Litanei, wo etwas gebetsmühlenartig „heruntergebetet“ wird im Sinne einer Beschwörung. Die Litanei – schon als rhetorische Artikulation entfaltet sie große Suggestivkraft. Und genau das unterstreicht Liszts Vertonung durch die ständige harmonische Modulation in der Wiederholung. Man bekommt so den Eindruck, dass sich das Subjekt immer mehr in die Ferne begibt, in eine Phantasiewelt hineinträumt und in sie verstrickt. Die Suggestion wird so wie von selbst dramatisch, die Träume und Bilder ergreifen Besitz vom Subjekt, das sie träumt. Das ist also eine einerseits sehr „textorientierte“ Vertonung und psychologisch sehr einfühlsam, macht in der sprachlichen Verdichtung die innere Empfindung, die Suggestion und Autosuggestion, sichtbar. Schuberts Version dagegen hört sich im Vergleich ziemlich „naiv“ an, orientiert sich mehr an Goethes Mignon-Gestalt als einem unschuldigen Naturwesen, als den Träumen und Sehnsüchten nach der Fremde, den exotischen Bildern, die Liszts Vertonung heraufbeschwört. Ganz anders Hugo Wolf: Psychologisch höchst komplex, aber mehr „dokumentarisch“ und objektivierend, jeglichen romantisch-subjektivistischen lyrischen Exzess vermeidend.

Freudvoll und leidvoll (Goethe
)
1. Fassung

http://www.youtube.com/watch?v=sSTmU7oyV8E

3. Fassung

http://www.youtube.com/watch?v=gcrCw6m5HpA

Freudvoll
Und leidvoll,
Gedankenvoll sein,
Langen und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt,
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.

Von „Freudvoll und leidvoll“ gibt es von Liszt drei völlig unterschiedliche Fassungen, die alle Margeret Price vorträgt (CD Teldec, mit Cyprien Katsaris am Klavier), Diana Damrau singt die 2. und 3. Version. Zu bemerken ist erst einmal die größere Verwandtschaft der ersten mit der dritten Fassung: die beherrschenden Dur-Moll-Wechsel von „Freudvoll und leidvoll“. Allerdings ist die frühe Fassung melodisch „flüssiger“, ariöser im Stil. Was könnte Liszt zu seinen Revisionen bewogen haben? Bei der Erstfassung fällt eine „Schwäche“ auf – die fehlende ästhetische Einheit. Man versteht das naive Glück am Schluss nicht so recht, wo doch die Ambivalenz zuvor so stark betont wird, sehr opernhaft dramatisch, das Hin-und-her-Gerissensein zwischen den Extremen („himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“). Wieso kann eine solche Liebe eigentlich noch eine glückliche Liebe genannt werden? Die Vertonung erinnert im Ton mehr an das Petrarca-Sonnett „Pace non trovo“, was die heillose Verwirrung und Zerrissenheit der Liebe zeigt. Diese „Frage“, wie die seelische Aufgewühltheit von „Freudvoll und leidvoll“ naives Glück bedeuten kann, beantwortet die frühe Vertonung letztlich nicht schlüssig.

Auf diese offene Frage gibt nun die Zweitfassung eine Antwort, indem das Klavier die Rolle übernimmt, eine einheitliche Grundstimmung herzustellen: eine ruhelose, „umtriebige“ Bewegung, die alles durchzieht. Die Ambivalenzen treten entsprechend in den Hintergrund. „Glücklich allein/ Ist die Seele, die liebt.“ Dieses Resumé des Ganzen, welches in der Wortdichtung am Schluss gezogen wird, begreift die Vertonung nicht nur als die zentrale Aussage, welche durch die Wiederholung bekräftigt wird, sondern wird nun vom Ende an den Anfang gesetzt und so zum „geheimen“, alles verbindenden Band. Das Liebesglück fungiert somit musikalisch als die gleichsam harmonisch-vereinheitlichende Stimmung, welche durch alle Gegensätze, Höhen und Tiefen, hindurchscheint, veranschaulicht durch die Harmonisierung der Melodie durch das Klavier. Das Klavier beginnt Solo, stimmt durch seinen Ausdruck von innerer Bewegtheit den Hörer in diese Stimmung gleichsam ein. Bei diesem freilich nicht ruhig-idyllischen, sondern unruhigen Liebesglück denkt man unwillkürlich an das eines Don Juan oder Casanova, seine Umtriebigkeit nach immer neuen Liebesabenteuern (was zum Liebhaber Liszt sehr gut passt!), der „Liebesfreud und Liebesleid“ einerseits spielerisch hinnimmt (das Liebesglück kommt und geht, man kann es nicht festhalten), aber gleichwohl in dem Genuss die Unruhe, die Unerfülltheit, niemals los wird. Dass die Ambivalenzen von Freude und Leid hier „leicht“ genommen werden im Sinne eines flüchtigen Abenteuers, von hedonistischer Leichtlebigkeit, zeigt sich musikalisch in der sehr „unrhetorischen“, wenig sprechenden Phrasierung.

Die letzte Vertonung bedeutet dagegen einen radikalen Schnitt: Hat die zweite Vertonung etwas von der Flüchtigkeit eines bitter-süßen, aber zugleich doch heiteren Sommernachtsraums, so ist dieses leichtsinnige Spiel nun schon mit der ersten Note aus: Aus der Ambivalenz wird bitterer Ernst. Dafür sorgt nicht zuletzt die „Trockenheit“, die Reduktion des Melodischen auf die bis zur Drastik gesteigerten Prägnanz einer „Sprechmelodie“. Der Dur-Moll-Wechsel wie auch die Abfall aus der Höhe in die Tiefe wird zum elementaren Ereignis. Dass das Klavier hier zurücktritt, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass an die Stelle des Ausdrucks einer Stimmung des Ganzen die sich an das einzelne Wort haltende rhetorisch-sprechende Phrasierung tritt, welche der Charakterisierung und Typisierung dient. Aber wie gelingt Liszt hier – ohne eine alles harmonisierende „Stimmung“ durch das Klavier zu beschwören – die Herstellung der Einheit? Bemerkenswert ist die Wiederholung der Zeilen:

Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt,

Das Liebesleid, nicht das Glück, wird in dieser letzten Fassung zur alles beherrschenden Aussage. Und diese Umakzentuierung zeigt sich schließlich in der Vertonung der Schlusszeilen, vor allem der ersten: „Glücklich allein“ wird zum Nachklang von „Freudvoll und leidvoll“ – das heißt das Glück selbst stellt sich nun als ambivalentes, vom Wechsel von Freude und Leid beherrschtes, heraus. Das ist freilich eine Sinnerweiterung durch die Musik, die über den Text, den bloßen Wortsinn, hinausgeht. Aber sie dient dazu, mit Blick auf das Ganze des Gedichtes die Einheit des Sinnes herzustellen: Durch die Vertonung versteht man, warum Liebeslust und Liebesleid, das „Himmelhoch jauchzend und zum Tode betrübt“, Liebesglück bedeuten kann. Und genau das macht den Rang und die Größe von Liszts Liedvertonung aus.

Beste Grüße
Holger
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Nachtrag zu Mignons Lied

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Hier das vollständige Gedicht – Liszt fügt in der letzten Strophe etliche Wiederholungen hinzu, unterschiedlich in zwei Fassungen, gesungen von Margeret Price und Brigitte Fassbänder

Mignons Lied (J. W. v. Goethe, aus: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 3. Buch, 1. Kapitel)

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!

Kennst du das Haus? Aus Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Dahin, dahin
Möchte ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!

Kennst du den Berg mit seinem Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut,
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg, o Vater laß uns ziehn!

Liszt Fassung 1856 (Searle 468 ), gesungen von M. Price

Kennst du das Land? Kennst du den Berg mit seinem Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut,
Kennst du ihn wohl?
Kennst du das Haus?
Kennst du den Berg? Kennst du sie wohl?
Dahin! Dahin geht unser Weg, o Vater laß uns ziehn!
Dahin geht unser Weg, o Vater,
O mein Beschützer, Geliebter, dahin!

Liszt Erstfassung, gesungen von B. Fassbänder

Kennst du den Berg mit seinem Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut,
Kennst du ihn wohl?
Kennst du das Land, das Haus, den Berg?
Kennst du sie wohl?
Dahin! Dahin geht unser Weg, o Vater laß uns ziehn!

Im „Wilhelm Meister“ heißt es über Mignons Vortrag des Liedes:

„Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das >Kennst du es wohl?< drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus, in dem >Dahin, Dahin!< lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr >Laß uns ziehn!< wusste sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, dass es bald bittend dringend, bald treibend und vielversprechend war.

Nachdem sie das Lied zum zweitenmal geendigt hatte, hielt sie einen Augenblick inne, sah Wilhelmen scharf an und fragte >Kennst du das Land?< – >Es muß wohl Italien gemeint sein<, versetzte Wilhelm; >woher hast du das Liedchen?< – >Italien!< sagte Mignon bedeutend; >gehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier.< – >Bist du schon dort gewesen, liebe Kleine?< fragte Wilhelm. – Das Kind war still und nichts weiter aus ihm zu bringen.“

Die Bedeutung der Wiederholung wird von Goethe also selbst unterstrichen: Die Deklamation ist gewichtig und gewichtend, und das geschieht nicht zuletzt durch die Wiederholungen. Mignon trägt das Lied zweimal vor, wobei der Text dies als Unterbrechung beschreibt, so als wiederhole und wiederhole sie alles in einer Art Endlosschleife. Zudem differenziert sie den Ausdruck in jeder Wiederholung. Beides holt Liszt in seine Vertonung ein durch die beständigen harmonischen Verschiebungen und die sich zum Ende hin dynamisch häufenden Zeilenwiederholungen, wodurch der Eindruck einer Litanei und Beschwörung hervorgerufen wird. Auf die Frage, ob sie das gelobte Land Italien kennt, schweigt Mignon. Offenbar handelt es sich beim Land, in dem die Zitronen blühen um ein Traumbild ihrer Phantasie, auch das unterstreicht den Sinn der wiederholten Anrede „Kennst du...“ als Beschwörung von etwas Irrealem, ein Sich-Hineinträumen in eine Bilderwelt, unaufhörliche Wiederholung nicht zuletzt als Ausdruck des unabschließbar Unendlichen der Sehnsucht.

Beste Grüße
Holger
Bild
Dr. Holger Kaletha
Aktiver Hörer
Beiträge: 189
Registriert: 29.12.2007, 16:05
Wohnort: Bielefeld

Annees de Pelerinage Heft 2 "Italien"

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Im zweiten Band, dem Land der Sehnsucht Italien gewidmeten Band der „Années...“ wird neben der Literatur die Malerei und bildende Kunst mit einbezogen.

1. Sposalizio

Liszts musikalische Italienreise eröffnet sehr eindrucksvoll mit einer Huldigung Raffaels, seines Gemäldes Vermählung der heiligen Jungfrau („Sposalizio“).

Raffaels “Sposalizio” (Abb.):

http://de.wikipedia.org/wiki/Verm%C3%A4 ... Raffael%29

Liszt hatte dieses Bild bereits 1837 in Brera betrachtet, seine Bedeutung aber wohl erst später erkannt durch seine Freundschaft mit dem Maler Auguste Dominique Ingres (1780-1867), einem Klassizisten, der in der Kunstgeschichte seinen Platz hat nicht zuletzt durch seinen Streit mit Eugène Delacroix über die Bedeutung der „Linie“ in der Malerei. Ingres spielte nicht nur vorzüglich Geige und musizierte mit Liszt zusammen, sondern führte ihn durch die römischen Museen. In diesem Klavierstück huldigt Liszt der Raffael-Begeisterung der Romantik. Raffael, der Sanftmütige und Edle, verkörpert mit seiner hellen Freundlichkeit nicht nur den Antipoden zum finsteren und wilden Michelangelo, sondern vor allem das religiös „vergeistigte“ Wesen einer Malerei, die in zauberhafte Weise die „Sonne des Friedens“ über die Dinge ausbreitet, wie es bei Wackenroder und Tieck heißt, was sich jedem, der einmal ein Raffael-Gemälde im Original gesehen hat, sofort erschließt. Die Darstellung Marias im Besonderen verkörpert das geistige Bild „himmlischer Vollkommenheit“, eine Göttlichkeit, welche den Betrachter rühren und überwältigen soll, wie es wiederum bei Wackenroder und Tieck („Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“, 1797) zu lesen ist.

Die „Sonne des Friedens“ – Liszts Klavierstück mit seiner kontemplativen Sinnlichkeit strahlt diese wahrlich aus. Der Hörer wird in eine Stimmung der „Andacht“ versetzt, die einerseits betörende Ruhe und Schönheit, aber auch Ergriffenheit, hymnische Extase, vermittelt. Maria und Josef stehen bei Raffael, einander zugeneigt, vor einem klassischen Tempel. Es wird so der Bezug hergestellt zur Antike und Liszt wird hier gewiss unter dem Einfluß Ingres den Geist Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768) eingefühlt haben, der mit Blick auf die griechische Architektur und Plastik die Formel des Klassizismus, „edle Einfalt und stille Größe“, prägte. Das sollte der Interpret von Liszts Klavierstück nicht vergessen. Wenn man Liszts Klavierstück programmatisch interpretieren möchte wie Serge Gut es tut, dann kann man die Zuneigung von Maria und Josef in der harmonischen Vereinigung der beiden Hauptthemenkomplexe sehen, die sich zu einem gewaltigen Hymnus steigert, bevor die Musik in wahrlich verzaubernder Stille friedlich und freundlich endet.

Die Biographen bemerken die Ähnlichkeit von Marias Gesichtszügen auf Raffaels Bild mit denen von Liszts Geliebter Marie d´Agoult. Liszt hat dieses Stück später für Orgel und Frauenstimmen umgeschrieben und im Mittelteil mehrfach mit einem >Ave Maria< versehen – dies war bei Liszt immer auch eine Anspielung auf „seine“ Maria. Das Bild der göttlichen, himmlischen Liebe in der Vermählung der Jungfrau Maria wird hier also mit der irdischen Liebe Liszts verschränkt. Heinrich Heine hat solche romantischen Identifizierungen ironisch thematisiert in seinem Gedicht „Im Rhein, im schönen Strome“, wo es in der letzten Strophe heißt:

Es schweben Blumen und Engelein
Um unsre liebe Frau;
Die Augen, die Lippen, die Wängelein
Die gleichen der Liebsten genau.

Liszt, der dieses Heine-Gedicht vertonte, hat diese Zeilen bezeichnend ganz unironisch ernst genommen. Die romantische Ästhetisierung des Religiösen zu einem „Kunstgefühl“ umgibt nicht nur das Profane mit dem Schimmer des Heiligen, sie säkularisiert zugleich das Heilige: Poesie und Prosa, Alltägliches und Unalltägliches, werden eins.


2. Il Penseroso

Der Titel (eigentlich Il Pensieroso, „der Nachdenkliche“) bezieht sich auf Michelangelos Grabmal der Medici:

http://entertainment.howstuffworks.com/ ... ures19.htm

und die folgende Inschrift von Michelangelo:

Antwort

Schlaf ist mir lieb, doch über alles preise
Ich, Stein zu sein.. Währt Schande und Zerstören,
Nenn ich es Glück: nicht sehen und nicht hören.
Drum wage nicht zu wecken. Ach! Sprich leise.

Michelangelo Buonarroti (1475-1564)
übersetzt von Rainer Maria Rilke

Der schlafende Tote hat vom Elend der Welt zuviel gesehen und will nicht aufgeweckt werden, zieht die Totenstille dem Weltgetriebe vor. Liszts Klavierstück komponiert entsprechend sehr eindrucksvoll in Stein gemeißelte Gedanken, die im Bass wie versteinert leise daherschleichen, sich schlaftrunken und nahezu reglos um sich selbst bewegen in kühner Harmonik.

3. Canzonetta del Salvator Rosa

Oft ändere ich den Ort,
an dem ich mich aufhalte;
doch niemals werde ich meine Gefühle ändern;
das Feuer meiner Liebe wird dasselbe bleiben,
und auch ich bleibe derselbe.


Liszt hat den italienischen Originaltext dem munteren Stück unterlegt zum Mitsingen. Man schrieb das Lied dem Maler Salvator Rosa zu, die Melodie stammt aber von Giovanni Battista Bononcini. Sein Inhalt ist eine Beschwörung des fahrenden Ritters und seiner Tugend der constantia: Der Abenteurer, mutig und lebenslustig, bleibt auch in der fremden Welt und ihren Turbulenzen, wo ihm immer Neues begegnet, sich selbst und seiner Liebe treu. Ist das etwa eine Metapher für den rastlos reisenden Virtuosen Liszt, der seine Gefühle zu seiner Geliebten daheim niemals vergisst?

4. – 6. Drei Petrarca-Sonnette (Nr. 47, 104, 123)

Nach der musikalischen Auseinandersetzung mit Malerei und bildender Kunst, dem Aufsammeln eines Brockens “musikalischer Prosa“, der schlichten Canzonetta, kehrt Liszt zur hohen Poesie und Literatur zurück: dreier Sonnette, in denen Petrarca, dem neben Dante wohl berühmtesten Klassiker der italienischen Literatur, der Liebe zu seiner angebetenen „Laura“ huldigt. Hierbei handelt es sich um Übertragungen dreier Lieder für das Klavier allein – also um „Lieder ohne Worte“. Liszt druckte die Gedichte in italienischer Sprache im Notentext ab, setzt also voraus, dass der Interpret mit ihrem Inhalt vertraut ist. Anders als bei den Liedern folgt hier die Nr. 104, das berühmteste von allen, „Pace non trovo“, „Den Frieden finde ich nicht“, der Nr. 47 nach. Nr. 47 ist eine Segnung der Wunder der Liebe, und zwar einer allumfassenden: Petrarca erteilt seinen Segen nicht nur den Stunden, in denen die Augen der Geliebten auf ihn gerichtet sind, sondern der ganzen Welt, die im Lichte dieser Liebe betrachtet wird. Sogar das Leid, das die Liebe bringt, wird in diese Huldigung eingeschlossen. Dagegen schildert Nr. 104 die zerstörerische Kraft der Liebe, welche die Seele in ein heilloses Chaos der Gefühle stürzt. In dem zauberhaften Sonnett Nr. 123 wird die Liebe zu einer von den Engeln gesandten Gabe, welche Ruhe und Frieden in die Welt einkehren lässt: die Natur verstummt in reiner Harmonie. Die letzte Strophe lautet in deutscher Übersetzung:

Und so versunken war der Himmel von der Harmonie,
Daß man kein Blatt am Zweig sich regen sah,
So voll von Wohllaut waren Luft und Wind.

Die Regungslosigkeit verdeutlicht Liszt am Schluss durch im ppp völlig statisch wiederholte Figuren, zuvor hatte Liszt die Musik in reine Klangpoesie aufgelöst mit höchst delikater, impressionistisch-farbenprächtiger Harmonik. Ich habe dieses Stück selber mit großem Vergnügen gespielt!

Näher eingehen möchte ich auf „Pace non trovo“ – dazu ist es allerdings unerlässlich, sich mit der Liedversion auseinanderzusetzen.

Petrarca-Sonnett 104 „Pace non trovo“

Den Frieden find ich nicht und darf nicht kämpfen;
Und fürchte, hoffe, brenne, werde Eis;
Und schwing mich auf zum Himmel, liege am Boden;
Fühl niemand mich verbunden und umarm die ganze Welt.

So knechtet er mich, gibt mir weder Freiheit noch Ketten;
Will mich nicht als sein eigen, doch löst die Bande nicht;
Zwar tötet Amor nicht, doch gibt er mich nicht frei;
Will nicht, dass ich lebe, und befreit mich nicht von meiner Mühsal.

Ich lebe ohne Auge, hab keine Zunge und schrei auf;
Sehne den Tod herbei und ruf um Hilfe;
Mich ekelt vor mir selber, doch lieb ich andere!

Der Schmerz erquickt mich, unter Tränen lach ich;
Leben und Tod verdrießen mich in gleichem Maße
Und dieser Zustand, Herrin, ist nur Eure Schuld!


Petrarca beschreibt die Liebe hier als eine dämonische Naturgewalt, Amor nicht als niedliche Putte, vielmehr eine entsetzliche Furie, welche die Seele in Aufruhr bringt und zerrüttet. Das Subjekt verliert jeglichen Halt, weiß nicht mehr, wie ihm geschieht, weder ein noch aus. Nicht nur Ambivalenz, Widersprüchlichkeit ist der verwirrende Zustand der Liebe: Der Liebende fühlt sich zugleich erhitzt und zu Eis erstarrt, im Himmel und in der Hölle, einsam und von pantheistischem Allgefühl beseelt, gefesselt und doch wieder frei, stumm vor Schmerz und zugleich aufschreiend, den Tod herbeiwünschend und nach Hilfe rufend, treu und untreu in einem, den Schmerz zugleich genießend und die bitteren Tränen verlachend. Schuld daran ist der Gott der Liebe in Gestalt der „Herrin“, der von Petrarca angebeteten Laura. Bei all dem bleibt jedoch die Dichtung „gefasst“, wofür die strenge Sonnettform sorgt.

Es zeigt sich nun, dass Liszts Vertonung genau diese Geschlossenheit des Sonnetts aufbricht. Musikalisch geschieht dies einmal durch die – freilich sehr frei gehandhabte – Form der Arie, welche die Gedichtform überlagert. Dafür spricht nicht zuletzt die Rolle des Klaviers. Es beginnt alleine mit sehr aufgewühlten, bizarren Akkorden, wie schroff in den Himmel ragende Gebirgszacken. Diese Einleitung des Klaviers wiederholt sich nach Abschluss der ersten Strophe. Erkennbar wird damit das für die Arie typische Wechselspiel Ritornell-Gesangssolo. Das Klavier vertritt hier gleichsam sehr „konzertant“ die Rolle des Orchesterritornells. Diese wird aber gleichwohl nur angedeutet und nicht fortgeführt – die folgenden Strophen bilden eine Einheit, das Klavier schiebt sich hier nicht mehr dazwischen. Der zweite Hinweis auf die Form der Arie ist die Schlusszeile In questo stato son, Donna, per Vui („Und dieser Zustand, Herrin, ist nur Eure Schuld!“), die musikalisch als Reprise der ersten Zeile des Gedichtes erscheint: Pace non trovo... Es ergibt sich so eine Liedform ABA mit der für die Da-capo-Arie typischen Raum für die freie Improvisation in der Reprise, von der Liszt am Schluss ausgiebig gebracht macht. Das Improvisieren auf der Schlusszeile gipfelt in einer raumgreifenden Kantilene, in der die bei Petrarca ungenannte „Laura“ beim Wort gerufen wird.

Während die Sonnettform die Gegensätze nur Zeile für Zeile aneinanderreiht, ergibt sich in der Vertonung der ersten Strophe eine dynamische Verdichtung auf das Ende hin: In den ersten beiden Zeilen gibt die Vertonung die Antithesen des Textes sehr rhetorisch „wortgetreu“ phrasierend wieder. Das ändert sich jedoch mit der dritten: Die grollenden Klavierbässe erwecken tonmalerisch ein Bild des Aufruhrs. Gefühl steigert sich zum Überschwang, der Aufschwung zum Himmel wird dramatisch überhöht und die Umarmung der Welt zum Ausbruch von Verzweiflung. Die Schlusszeile, welche Pantheismus und soziale Vereinsamung kollabierend zusammenbringt, muss auf den in seiner Seele zutiefst vereinsamten Weltbürger Liszt besonders assoziativ gewirkt und seine einfühlende Identifikation herausfordert haben, so dass die Umarmung der Welt zur finalen Katastrophe dieses Binnendramas der ersten Strophe wird. Die Musik endet abrupt mit einem Aufschrei von Schmerz – eine kurze expressionistische Ausdrucksgeste von elementarer Gewalt, welche die um Ausgewogenheit und Gleichgewicht bemühte Form des Sonnetts regelrecht sprengt.

Nach diesem Abbruch, zu dem es keine Fortsetzung gibt und geben kann, kehrt die Musik zum Anfang zurück – das „Ritornell“ des Klaviers – sucht also einen neuen Anfang, der weiterführt. Der Form der Arie entsprechend gehört die zweite Strophe zum harmonisch stärker variierenden B-Teil, der sich bei Liszt auch die dritte und vierte Strophe – bis auf die Schlusszeile – bruchlos anschließen in Gestalt eines herunterzusingenden Strophenliedes. Dieser Abschnitt, welcher mit der Beschreibung von Amors göttlichem Werk beginnt, „betört“ den Hörer durch seine harmonische Komplexität und schön dahinschmelzendem ariösem Gesang, „Belcanto“ reinsten Stils. Solcher Wohllaut wird nur einmal unterbrochen durch das dunkel gefärbte „morte“ in „morte e vita“: Der Tod verweigert sich der amourösen Ästhetisierung. Die letzte Strophe steigert die Emphase zu einem wahren Klangrausch – erst die Schlusszeile mit ihrem Tonfall einer Mischung aus Wut und Trotz kehrt zum „sprechenden“ Ton der ersten Strophe zurück. Das Klavier improvisiert über die letzte Zeile, vertreibt wiederum den Ton der Anklage durch seinen Klangzauber, in welchen die Singstimme einstimmt durch eine betörende Kantilene in der Höhe, welche den Namen „Laura“ geradezu zärtlich in den Mund nimmt. Liszts Vertonung dramatisiert also nicht nur dieses Petrarca-Sonnett, sondern ästhetisiert zugleich. Aus der heillosen Verwirrung, dem Eingeständnis einer Aporie, wird eine Art apollinisch-dionysischer Rausch, der Genuss überwiegt, der bezeichnend in der Zeile kulminiert: „Der Schmerz erquickt mich, unter Tränen lach ich“. Das bedeutet eine „Romantisierung“ von Petrarcas Dichtung, welche das Verstörende der Liebe zwar nicht verschweigt, aber letztlich ihre erlösende Dimension hervorkehrt.

Diese Tendenz zur romantischen Ästhetisierung setzt sich schließlich fort in der Klavierversion, dem „Lied ohne Worte“ aus den „Années de Pèlerinage“. Das Klavier beginnt wiederum mit den bizarren Akkorden, die schon in der Liedversion zu hören waren, spart jedoch die erste Strophe mit ihren dramatischen Antithesen komplett aus. Das Klavierlied huldigt voll und ganz Amors Gesang mit all seiner harmonisch-melodischen Finesse. Die Improvisation der Schlusszeile In questo stato son, Donna per Vui wandelt sich in der Klavierfassung zum Epilog, der mit der Einleitung korrespondiert – eine trockene, „sprechende“ Tongebung als Resumé („der Dichter spricht“ in der Art von Schumann) mit einem sich anschließenden verklärenden Abgesang des zur Ruhe Gekommenen. In den Vibrationen des arpeggierten Schlussakkord bebt die seelische Erregung lediglich nach – wie das ferne Wetterleuchten eines Gewitters, kongenial herausgehört von Vladimir Horowitz. Liszt setzte offenbar voraus, dass der Pianist mit dem Inhalt des Gedichts vertraut ist, sonst hätte er dieses Klavierstück wohl nicht mit „Sonetto 104 del Petrarca“ überschrieben und die Gedichttexte aller drei Petrarca-Sonnette dem Notentext beigefügt. Der Blick auf Petrarcas Verse, er sollte den Pianisten vor allem eines lehren: die Antithesen sprachdeutlich charakteristisch herauszuarbeiten, gerade weil die das Wort gebende Singstimme fehlt, wie dies vorbildlich etwa Dinu Lipatti realisiert. Genau damit nämlich wird dieses Instrumentalstück „beredt“, zu einem Lied ohne Worte, das der Worte letztlich nicht bedarf.


7. Après une lecture du Dante. Fantasia quasi Sonata („Dante-Sonate“)

Liszt war ein begeisterter Leser von Dantes göttlicher Komödie. Man fragt sich jedoch, warum der Zyklus nach der grandiosen Beschwörung der Liebe in den Petrarca-Sonnetten ausgerechnet mit der Hölle abschließt. Der Titel „Komödie“ bei Dante bedeutet nicht, dass es hier um die Schilderung „lustiger“ Dinge geht, sondern folgt der auf die Antike zurückgehenden Gattungstradition. Dichtung definiert sich durch den Inhalt, den sie darstellt. Die Tragödie hat entsprechend das Hohe und Erhabene zum Gegenstand, die Komödie beschäftigt sich mit den gewöhnlichen und niederen menschlichen Dingen, den kleinen und kleinlichen Verfehlungen und Fehlbarkeiten. Und genau dieser fehlbare Mensch ist in der Hölle aufgehoben. Der endgültige Titel mit seinem Bezug auf Victor Hugos Dante Lektüre hat Liszt seiner Sonate zwar erst später gegeben, er verrät allerdings etwas über die Motivation. Victor Hugos Gedicht in deutscher Übersetzung:

Victor Hugo
Nach einer Dante-Lektüre

Wenn der Dichter die Hölle schildert, schildert er sein Leben.
Sein Leben: ein Schatten, der die quälenden Gespenster flieht,
ein geheimnisvoller Wald, wo seine aufgescheuchten Schritte
sich ziellos verlaufen außerhalb der gebahnten Wege,
dunkle Fahrt, behindert von hässlichen Begegnungen
Spirallinie zu trüben Ufern, in enorme Tiefen,
deren scheußliche Kreise immer weiter gehen
in einem Schatten, in dem sich die grenzenlos beständige Hölle suhlt.
Diese Rampe verliert sich im unbestimmten Nebel
Am Boden jeder Unternehmung sitzt ein Klagen,
und der hier passieren will mit dem ohnmächtigen Geräusch
eines Knirschens der weißen Zähne in einer düstren Nacht.
Da sind die Gesichte, die Träume, die Chimären,
die Augen, die der Schmerz verwandelt in bittre Quellen,
die Liebe, ein verschlungenes Paar, traurig und brennend stets
die in einem Wirbelsturm eine Wunde an der Seite empfängt.
In einer Ecke die Rache und der Hunger, unfromme Schwestern,
zusammengekauert Seit’ an Seit’ auf einem abgenagten Schädel;
Danach das bleiche Elend, bis aufs Lächeln ausgesaugt,
der Ehrgeiz, der Stolz, der sich aus sich selber nährt,
und die schmutzige Unzucht, die niederträcht’ge Habsucht,
mit deren Bleimänteln all’ sich die Seele nur bepacken kann!
Etwas entfernter die Feigheit, die Angst, der Verrat,
die ihre Schlüssel zum Kauf anbieten und das Gift probieren.
Und schließlich, noch weiter unten, und ganz am Boden des Abgrunds,
die grimassierende Larve des Hasses der leidet.
Ja, so so sieht es aus, das Leben, o begeisterter Poet!
und sein düsterer Weg, von Hindernissen versperrt.
Aber dass uns nichts hier mangle auf unsrer engen Bahn,
zeigt Ihr Euch uns stets aufrecht von Eurer Rechten
der Genius mit ruhiger Stirn, mit Augen voll von Strahlen,
Der heitere Vergil der sagt: Nur weiter!


„Wenn der Dichter die Hölle schildert, schildert er sein Leben.“ Victor Hugos Dante-Lektüre bringt Dantes Darstellung der Hölle romantisch mit der Künstlerproblematik in Verbindung: Die Fahrt durch die Hölle wird zum Sinnbild für die Enttäuschungen der Künstlerexistenz. Der Blick auf die Lebensreise des Poeten ist einerseits illusionslos, von tiefer Skepsis gezeichnet, andererseits aber von einem gewissem Heroismus geprägt, dem Willen zum „Durchhalten“, sich trotz aller Hindernisse und Verirrungen von seinem Weg nicht abbringen zu lassen. Genau das entspricht Liszts eigener Erfahrung als fahrender Virtuose und gefeierter „Star“ seiner Zeit, der von Heinrich Heine spöttisch so bezeichneten „Lisztomania“, nur zu genau. Liszt wählt die Form der Sonate, in der sich ein musikalisches Drama ausdrücken lässt. Der Untertitel „Fantasia quasi Sonata“ spielt auf Beethovens Klaviersonate op. 27 Nr. 1 an, die „Sonata quasi una fantasia“. Die Umkehrung deutet an, dass es hier um „Programmmusik“ geht, eine musikalische Phantasie im Gewand der Sonate. Die Grundzüge der Sonatenform sind zwar erkennbar, doch findet sich hier nicht mehr das, was sie beherrscht, der Konflikt zweier gegensätzlicher Themen in der Exposition, seine Austragung in der Durchführung und Lösung in der Reprise. Statt dessen eine Themen- und Motivvielfalt, die Liszt hier wie später in der h-moll-Sonate durch assoziative Motivverwandtschaft, die „Thementransformation“, bewältigt. Der Hörer soll die „Form“ nicht abstrakt hören, sondern mit dem sich ausdrückenden Inhalt, Dantes Darstellung der Hölle, in Verbindung bringen. Die Sonate eröffnet mit in die Tiefe abstürzenden Oktaven im Tritonus-Abstand – der Tritonus, das „teuflische“ Intervall (drei ganze Töne, eine übermäßige Quarte), auch „diabolus in musica“ genannt, ist natürlich nicht zufällig gewählt. Der Hörer wird hier mit der Musik in die Tiefe, den Höllenschlund, gerissen, alle Hoffnung soll er fahren lassen. Bezüge zu Victor Hugos Gedicht lassen sich durchaus herstellen. „Eine dunkle Fahrt, behindert von hässlichen Begegnungen“, das ist das Hauptthema mit Liszts Spielanweisung lamentoso: Eine chromatische, unruhig vorwärtsdrängende Bewegung, „Presto agitato assai“ zu spielen (Takt 35 ff.). Das Seitenthema ist weit davon entfernt, mit ihm als „positives“ Liedthema zu kontrastieren. Nachdem zum Ende des Hauptthemenkomplexes die Tritonus-Oktaven in der Tiefe verstummt sind, erscheint ein Bild entsetzlichen Jammers (Takt 124, Andante quasi improvisato, dolcissimo intimo sentimento). „Sein Leben: ein Schatten, der die quälenden Gespenster flieht“ könnte man dieses Schattenbild chromatisch in kleinsten Tonstufen daherschleichender Akkorde überschreiben. „Da sind die Gesichte, die Träume, die Chimären, die Augen, die der Schmerz verwandelt in bittre Quellen“ – das folgende Andante-Thema (Takt 136 ff.) mit seinem Ausdruck von intimer, leiser Sehnsucht ist ein Traum, eine Illusion in dieser Höllenwelt, das mündet in einem turbulenten Höllentanz der jammernden Schatten (Takt 157 ff. piu tosto ritenuto e rubato quasi improvisato). Einen Lichtblick gibt es allerdings: „die Liebe, ein verschlungenes Paar, traurig und brennend stets die in einem Wirbelsturm eine Wunde an der Seite empfängt“. Hier handelt es sich um die Francesca da Rimini-Episode aus Dantes „Göttlicher Komödie“ – Paolo und Francesca, das Paar einer verbotenen Liebe aufgrund einer Täuschung, die vom Enttäuschten, dem versprochenen Ehemann Giovanni, getötet wurden. Liszt gestaltet diesen Augenblick entdeckter wahrer Liebe zum Lichtblick im Dunkel der Hölle durch eine Passage mystischer Triller (Takt 292 ff., Andante), nachdem sich die in die Tiefe abstürzenden Höllenoktaven im äußersten Pianissimo verflüchtigt haben. Es ist bezeichnend, dass der Dante-Sonate der „positive“ Schluss fehlt. Die virtuose Coda (Takt 341 ff., Presto) ist freilich ein heroischer Kampf, der jedoch letztlich keinen Weg aus der Hölle findet. Es endet mit den in den Bass abstürzenden diabolischen Oktaven, einer Wiederholung des Anfangs der Sonate im Fortissimo mit düster-bedrohlichen Basstremoli untermalt. Das Höllentor – es schließt sich unerbittlich bei Liszt. Der Skeptiker Liszt hat das letzte Wort – aus der Hölle des Künstlerlebens gibt es kein Entrinnen.

Supplement: Venezia e Napoli

1861 veröffentlicht Liszt als Zusatz zum zweiten Band der „Années...“ drei musikalische Reisebilder unter dem Titel „Venezia e Napoli“. Beim ersten Stück „Gondoliera“ verwendet das Lied „La biondina in gondoletta“ von Cavaliere Peruchini (1784-1870). Es berschreibt mit seinen sanft wiegenden Bewegungen einen schwebenden Augenblick der Schönheit und des Glücks. In der folgenden „Canzone“ griff Liszt auf Rossinis „Otello“ zurück. Die folgende virtuose „Tarantella“ bearbeitet ein Thema von Guillaume Louis Cottrau (1797-1847). Eine Passage hat auffällige Verwandtschaft mit dem Bild der schwatzenden Marktfrauen aus Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“ – Mussorgsky hat dieses Liszt-Stück offenbar gekannt. Das ist wohl kein Zufall. Liszt steht mit seinen Charakterstücken an der Schwelle von der Romantik zum Realismus.

Viel Vergnügen beim Hören!

Beste Grüße
Holger
Antworten