Franz Liszt hat 200ten Geburtstag

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
Dr. Holger Kaletha
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Le benediction de dieu dans la solitude

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Barenboim und Liszt fand ich sehr gut, der Lang Lang zeigte alle Fragwürdigkeiten des Star-Kults in China - bis hin zu Nippes-Figuren. Doch wozu ich eigentlich kommen möchte:

Zu meinen Lieblingsstücken von Liszt gehört „La bénédiction de dieu dans la solitude“ Nr. 3
aus dem Zyklus „Harmonies poétiques et réligieuses“. Die Titel sind beide von dem französisch-romantischen Dichter Alphonse de Lamartine übernommen, dessen Dichtungen romantische Naturreligiosität in reinster Form verkörpern. Die Segnung Gottes geschieht in der Einsamkeit – gemeint ist natürlich: der Einsamkeit der Natur fern von der Menschenwelt. Die Natur wird zum Zufluchtsort der Selbstfindung, zu einer Art Exil der romantischen Seele, die von der Welt enttäuscht in der Natur Erfüllung, Ruhe und Frieden findet. Gott begegnet dem Menschen in der Natur – und nicht in der verlogenen Menschenwelt. Die beiden ersten Strophen des Gedichtes lauten:

Woher, mein Gott, strömt dieser Friede mir?
Woher quillt dieser Glaube, der mein Herz
Erfüllet, mir, der eben schwankend noch,
Umhergeschleudert auf des Zweifels Wellen
Von jedem Windstoß, in den Träumerei´n
Der Weisheit dieser Welt das Wahre, Gute
Gesucht, und in der sturmbewegten Brust
Den Frieden? Wen´ge Tage zogen kaum
mir über´m Haupte hin, und schon bedünkt
Es mich, dass ein Jahrhundert, eine Welt
Entflohen sey, ein unermesslich Grab
Mich scheide von den Hingeschwundenen;
Daß ich ein neuer Mensch auf neuer Bahn
Erwache und Begönne!

Dies ist´s allein, dass ich das Weltgewühl,
Das allen Frieden mordet, oder trübt,
Verlassen für die stille Einsamkeit;
Daß ich mein ländlich Thal hier wiederfand,
Das Murmeln meiner Quelle, meiner Buche
Hellgrünes Schattendach; die Berge dort
Die blauen Säulen eines Strahlenbogens,
Und meinen Sternenhimmel, der auf mich
Das seligste Entzücken niedergießt.


Lamartines Sammlung erschien 1830 und schon 1831 wurde sie ins Deutsche übersetzt. Die Resonanz gerade auch in Deutschland war groß, erfüllte das damalige Bedürfnis nach metaphysisch-religiöser Dichtung, eine Religiosität, die freilich nicht dogmatisch und kirchengebunden war, sondern an das „Gefühl“ appellierte. So schreibt Friedrich Schlegel über Lamartines Dichtungen:

„Diese hohe Begeisterung und Tiefe des Gefühls, oder innige Beseelung ist nun die Region, in welcher wir mit diesem neuen Dichter zusammen treffen, so daß die große Scheidewand seiner und unsrer Sprache verschwindet. Man hört verwandte Töne im Wiederklang der innersten Herzgefühle, und glaubt die eigne Sprache zu vernehmen, weil es die Eine, Ewige ist, die allen zersplitterten Nationalsprachen zum Grunde liegt, und das innere Leben giebt.“

Genau das war auch Liszts Inspiration. Das Stück beginnt schon sehr eindrucksvoll mit einer langgezogenen Melodie, die wirklich „atmet“, frei ausschwingt in eine quasi überdimensionale Weite. Die „klassische“ Melodie – auch die des Volkslieds – folgt dem einfachen Schema der achttaktigen Periode. Bei Liszt wird diese Periode ausgeweitet auf nahezu 20 Takte und dann mehrfach wiederholt und zu einem Hymnus gesteigert. Die Bewegung lässt sich damit in kein vorgefertigtes Periodengerüst, kein konventionelles Schema mehr einzwängen, es gibt keine Zäsuren mehr, lediglich „Kommas“, die Melodie scheint endlos weiterzuschwingen, zur „unendlichen Melodie“ zu werden, wie es der Unendlichkeit der „freien“ Natur entspricht, wo alles aus innerem Antrieb heraus und nichts durch äußeren Zwang geschieht. Zweifellos wollte Liszt damit einen Ausdruck des „Erhabenen“ geben in der grenzenlosen Dimensionierung dieser melodischen Bewegung. Das andere Moment, was den Hörer in den Bann zieht, ist die „impressionistische“ Klanglichkeit und Klangfülle, die sich fast schon wie Debussy anhört. Auch das ist ein Aspekt romantischer Naturreligiosität. Der Regenbogen und seine Spektralfarben bei Lamartine – da wird die reine Materie zum Erlebnis und von allem menschlichen Ausdruck – aller Sprachrhetorik – gereinigt. So ist es auch in der Malerei: Die Romantiker malen das menschenfeindliche Hochgebirge. Die göttliche Natur ist nicht die auf den Menschen bezogene, sondern die menschenleere Natur, die sich der einsame Wanderer lediglich schauend erschließt – Caspar David Friedrich und sein „Wanderer über dem Nebelmeer“. Die elementaren Qualitäten, die „Farben an sich“, der „Klang an sich“, die reine Impression, bekommt einen Eigenwert und verstärkt den Enthusiasmus des Naturerlebens. Das Stück hat einen deutlich gemessener wirkenden Mittelteil (mit „Andante“ überschrieben). Cortot sagt hierzu, dass sei der Geschmack Robert Schumanns. Ich denke da immer an einen griechischen Tempel, wie Winckelmann ihn im 18. Jahrhundert beschrieb, als „edle Einfalt und stille Größe“: die Antike als Ideal eines schlichten Lebens im Einklang mit der Natur. Wirklich aufregend – das erzeugt geradezu eine Gänsehaut – die mit „Piu sostenuto. Quasi Preludio“ überschriebene Überleitung. Nach einer wiederum ungemein atmenden Pause wächst aus der marmornen Starre leidenschaftliche Gefühlsbewegung wie aus dem Nichts heraus, wie eine „Geburtsstunde“ des Menschlichen. Es folgt die Apotheose des melodischen Themas und eine wahrlich impressionistische Auflösung der Musik in reinen Klang, einen Klangrausch von Farben geradezu, die Formen auflösend. Das hochromantische Stück endet mit einem schlichten Andante – im Volksliedton als Ausdruck des ungekünstelt Naturhaften. :D

Empfehlenswerte Aufnahmen: Jorge Bolet, Cyprien Katsaris, Claudio Arrau. Hamelin habe ich leider (noch) nicht!

Beste Grüße
Holger
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Dr. Holger Kaletha
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Liszts 2. Ballade

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Eines der schönsten Liszt-Stücke ist die 2. Ballade. Es beginnt mit einer sehr tonmalerischen, aufwühlenden Bewegung in den Bässen. Es folgt ein lyrischer, sehr klangschwelgerischer Abschnitt. Diese Folge wiederholt sich, wobei die Bassbewegung immer heftiger wird. Offenbar gibt es hier einen programmatischen Bezug. Dazu Claudio Arrau im Gespräch mit Joseph Horowitz:

J.H. „Es gibt noch eine Komposition Liszts, die ich gerne erwähnen möchte – die Ballade in h-moll. Ich weiß, Sie benutzen die Geschichte von Hero und Leander. Ich glaube, dass nicht viele Menschen über diese Interpretation Bescheid wissen.“

C.A.: „Sie war in Liszts Kreis durchaus geläufig. Soweit ich mich erinnern kann, folgt die Musik dem Originalmythos. Leander durchschwamm jede Nacht den Hellespont, um Hero zu besuchen, und schwamm am nächsten Morgen zurück. In der Musik kann man tatsächlich hören, dass es jedes Mal schwieriger wird. In der vierten Nacht ertrinkt er. Die allerletzten Seiten sind dann eine Verklärung.“

Arraus Interpretation ist von einer idealen Geschlossenheit, virtuos, aber ohne jede Artistik als Selbstzweck, ordnet sich ganz dem poetischen Programm unter. Anders Horowitz: Exaltierte Virtuosität, er verändert den Notentext. Was Horowitz, der Tastenmagier, jedoch aus dem Flügel alles an Klängen herauszaubert, besonders in den lyrischen Passagen, ist magisches Klavierspiel märchenhafter Qualität. Er zeigt, was Klavierspiel sein kann, das alle Fesseln der Mechanik überwunden hat. So etwas gibt es eben nur bei Horowitz und Benedetti Michelangeli. Dagegen wirkt selbst ein Cziffra dann ein bisschen blass.

Beste Grüße
Holger
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Dr. Holger Kaletha
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Funerailles und Consolation

Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Eines von Liszts bekanntesten und meist gespieltesten Einzelstücken ist Funérailles, das 5. Stück aus den „Harmonies poétiques et religieuses“. Der Untertitel lautet „Oktober 1849“, wodurch Liszt anzeigt, dass es hier einen programmatischen Bezug zu den Zeitereignissen gibt. Die Datierung bezieht sich jedoch nicht auf Chopins Tod, der am 17. Oktober 1849 starb, sondern – nach Liszts eigenem Bekunden – auf den von den Habsburgern niedergeschlagenen Ungarnaufstand im Revolutionsjahr 1848, wo Liszt drei seiner ungarischen Freunde verlor, darunter der Premierminister Lajos Batthyány. Liszts Klavierstück zeichnet also das poetische Bild einer gescheiterten Revolution und das Bemerkenswerte ist, dass hier das heroische Pathos verabschiedet wird. Der idealistische Glaube an das seiner selbst mächtige Subjekt schwindet, wie es Hegels hochtrabende Charakterisierung von Kaiser Napoleon als „Weltgeist zu Pferde“ zum Ausdruck brachte. Das Stück beginnt mit einem Trauermarsch, genau genommen jedoch vor seinem Einsetzen mit einer den Rhythmus vorgebenden rabenschwarzen Bassoktave (Des). Das Ungewöhnliche daran ist, dass diese Des-Oktave in die extrem tiefe Basslage versetzt ist. Das klingt nicht nur schwarz, sondern führt dazu, dass man nicht mehr eigentlich „funktionsharmonisch“ die banale Oktave hört, sondern zwei Töne, zwischen denen eine große Leere klafft, so wie das Chaos, der Abgrund zwischen Himmel und Erde bei der Entstehung der Welt, wie es bei dem griechischen Dichter Hesiod zu lesen ist. Dem Hörer wird also gleich zu Beginn der Boden unter den Füßen weggezogen, dem marschierenden Schritt fehlt damit jeglicher zuversichtliche Halt, er balanciert gewissermaßen auf einem schmalen Grat am Abgrund, wo in jedem Schritt dieser Gratwanderung das reine Nichts bodenloser Tiefe, in die man fallen kann, drohend gegenwärtig ist: Sinnlosigkeit, Ausweglosigkeit und Leere. Der Trauermarsch tritt entsprechend schmucklos und schäbig auf, mit einem gewissen Zug von Trotz. Darauf folgt eine lyrisch intime Klage über das Verlorene, die sich zu leidenschaftlicher Heftigkeit steigert mit einem Anflug von heroischem Pathos. Der pathetische Tonfall verfliegt jedoch schnell im darauf folgenden desillusionierenden Abschnitt, der eine Art Erinnerung an das Revolutionsgeschehen darstellt. Ein triumpfierendes Marschthema, das sich zu einem gewaltigen Oktavensturm steigert, der aber wie eine rohe Naturgewalt wirkt, welche das hilflose Subjekt hinwegbläst. Nicht der Mensch „macht“ Geschichte, das Revolutionstreiben wird zwar vom Menschen entfacht, aber er hat es nicht mehr in der Hand, sondern er wird von denjenigen von ihm selbst entfesselten Gewalten schließlich zermalmt. Auf den Sturm folgt das Trauermarschthema im Fortissimo, so wie eine verzweifelte Kraftanstrengung, mit allerletzter Kraft aufstehend die Fassung und Haltung angesichts der eigenen Kläglichkeit und Hilflosigkeit zu wahren. Dann kommt – ungemein eindrucksvoll – das traurig-schöne Klagethema als Vision, eine Art Fata-Morgana, ein in die unendliche Ferne gerücktes Glück, eine verlorene Erinnerung. Dieser kurze Anflug von Sentimentalität wird dann brutal hinweggefegt durch das kurze Wiederaufleben des Sturmes. Das Stück schließt nicht, sondern endet, bricht ab, mit stockenden, erstarrten Staccato-Akkorden: Der Tod nicht mehr als romantisch schöner Tod, ohne jede „Verklärung“, sondern als Abbruch, welcher das Lebenswerk als etwas Unvollendetes und Abgebrochenes, ein Torso, zurück lässt.

Kaum einer der großen Liszt-Interpreten hat dieses eindrucksvolle, wirklich „philosophische“ Stück ausgelassen:
Vladimir Horowitz, Lazar Berman, Svjatoslav Richter, George Cziffra, Claudio Arrau.

Die Consolations („Tröstungen“), 6 kurze und schlichte Klavierstücke, die man – fast – vom Blatt spielen kann, zeigen die andere Seite von Franz Liszt: Nicht den Virtuosen, sondern den zur Askese neigenden Tondichter, dem die Vermittlung einer poetischen Idee und metaphysischen Intention wichtiger war als jede pianistische Bravour. Die Stücke erschienen 1850, wobei Liszt die schon druckfertige etwas virtuosere Frühfassung zurückhielt und durch eine noch schlichtere ersetzte. (Die Henle-Ausgabe von 1992, die ich besitze, enthält beide Versionen.) Die bedeutendste Änderung betrifft die Nr. 3, ursprünglich eine Bearbeitung des ersten Themas der 1. Ungarischen Rhapsodie. Dieses Stück ersetzte er durch das zugleich schlichte, eine reine Klangpoesie im Pianissimo verherrlichende „Lento placido“, das am häufigsten gespielte Stück der Sammlung, hier gespielt von Vladimir Horowitz als Zugabe in Wien:

http://www.youtube.com/watch?v=zS5LRRsNYZk

Worauf sich der Titel bezieht, ist nicht ganz klar. Zum Freundeskreis von Liszts großer Liebe Marie d´Agoult gehörte Charles Sainte Beuve, der einen Gedichtband mit dem Titel Consolations veröffentlichte. Die andere Quelle ist die 9. Harmonie der Harmonies poétiques et religieuses mit dem Titel Une larme, ou Consolation („Eine Träne, oder Tröstung“) von Alphonse de Lamartine, eine Dichtung, die Liszt sehr beeinflusste. Liszt stellte das Gedicht der Nr. 9 seines gleichnamigen Klavierzyklus als Motto voran. Die literarische Gattung hat ihren berühmten Ahnen in Boethius´ Consolatio philosophiae (in manchen Handschriften auch De consolationae philosophiae, „Über den Trost der Philosophie“). Boethius, der spätantike christliche Neuplatoniker, bedeutend nicht zuletzt durch seine lateinischen Übersetzungen und Kommentare griechischer Philosophen, schrieb dieses über die Jahrhunderte vielgelesene Werk im Gefängnis, in das ihn die politischen Wirren der spätrömischen Kaiserzeit gebracht hatten und wo er auf seine Hinrichtung wartete. Die Philosophie tritt hier als Trösterin auf, welche ihm das Wahre, Gute und Schöne in der Erkenntnis göttlichen Seins vermittelt. Lamartines Gedicht lässt diesen Gattungsbezug deutlich erkennen: Das vereinsamte Individuum, von der Welt und allen Freunden verlassen, findet schließlich Trost in seinem eigenen Schmerz – ein Motiv, der Schmerz als Tröster, das sich schließlich auch bei Gustav Mahler wiederfindet. Im Kerker des in eigenem Leid vereinzelten Individuums, das durch kein Mitleid geteilt wird und weder Hoffung noch eine weltliche Zukunft hat, öffnet sich schließlich die Tür zur Transzendenz, zur Erkenntnis Gottes:

Neunte Harmonie:

Eine Träne oder Trost (Une larme, ou Consolation).

„Fallt auf den trüben, regungslosen Grund
Hernieder, stille Thränen! Freundeshand
Wischt euch nicht mehr vom trüben Aug, ihr fließt
Nicht sanft an treuer Liebe Brust dahin.
Gleich einem unfruchtbaren Regen rinnt
Hernieder, der um starre Klippen sprüht.
Die weder Sonnenstrahl noch Lufthauch trocknet.
Was kümmert sich um ein gebrochnes Herz
Der Mensch, mein Bruder? Hocherhaben ist
Er über meinem Elend, mein Geschick
Liegt ihm zu ferne. Thränen werden nie
Verdunkeln seinen Himmel, ungetrübt
Lacht ihm die Zukunft, zugemessen ist
Ihm keine Galle.

(...)
Wohlan! nicht such ich ferner mehr umsonst
Nach eitelm Mitgefühl; ich nähre mich
Von meinem Leid, und berge vor der Welt
Mein schmerzbeladenes, gebeugtes Haupt.

Wenn die verlassne Seele sich verhüllt
In dunkle Schatten, nichts mehr will und wünscht
Von dieser Erde, sich geschieden hat
Von ihrer letzten Hoffnung; wenn sich kehrt
Von unsrer Bahn die treuvergessne Freundschaft;
(...)
Allein und hilflos, Aug' im Auge nur
Mit unserm Elend, uns verläßt; reizlos
Die Zukunft uns entgegen droht, daß wir
Kein „Morgen" mehr begehren, unser Brod
Nur noch gewürzt von bittern Thränen ist:
Dann fühl' ich, Herr! daß deine Stimme in
Der öden Stille meiner Brust erwacht,
Daß deine Hand die starre Schmerzenlast
Von meiner Seele nimmt; (...)
Dann ziehst Du uns mit himmlischer Gewalt
Zu Dir, wie Liebe zieht an Freundesbrust;
Die Welt, die uns durch Thränen lächeln sieht,
Fragt: welches Heil verklärte seinen Blick? —
Die Seele aber schmelzet im Gebet,
Verfließet in des Himmels sel'gem Schau'n.
(...)
Ein Sonnenstrahl, durch Winterdüfte blitzend:
So flieht der herben Thränen letzte Spur
Bald von den Wimpern, von dem hellen Aug!“

Einen „programmatischen“ Bezug lassen Liszts Stücke freilich nicht erkennen, wohl aber die verwandte „Geistesstimmung“ (den Begriff verwendet Liszt in seinen Schriften). Liszts „sonnenhelle“ Stücke weinen keine einzige Träne; es strahlt eine sehr klangsinnige, aber nicht dekadent opulente, sondern stets schlichte Tonschönheit. Die „Askese“ bezieht sich hier auf die Vermeidung jeglicher rhetorischer Wirkungsmittel, die Sinnlichkeit wird entdämonisiert, bekommt eine geradezu klassische Schlichtheit – was auf Liszts Spätwerk vorausweist. Diese Läuterung ist zugleich ihr metaphysischer Sinn: Bei Liszt – wollte er wohl die Tränen der gescheiterten Revolutionsjahre, wie sie in „Funérailles“ geflossen waren, vergessen machen? – tröstet die Kunst, ein reines Kunstschönes, über das irdische Leiden hinweg. Es wird ein tröstliches Kunstparadies errichtet als eine in sich geschlossene Welt fern von der bitteren geschichtlichen Wirklichkeit, wo – wie in Lamartines Gedicht – der Sonnenstrahl des Schönen alle Tränen getrocknet hat.

Empfohlene Interpretation: Jorge Bolet (Decca) :D

Beste Grüße
Holger
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Bernd Peter
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Beitrag von Bernd Peter »

Hallo Holger,

danke für deine letzten 3 Berichte, so erfährt man doch einiges mehr über die Entstehung und die Hintergründe von Werken Liszts.

Dein Hinweis auf die exaltierte Virtuosität bei Horowitz und die idealen Geschlossenheit bei Arrau gefällt mir gut.

Arrau wurde ja von Martin Krause, einem der letzten Schüler Liszts ausgebildet, da stellt sich dann bei mir die Frage, mehr Werkstreue oder mehr Inspiration.

Gruß

Bernd Peter
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Bernd Peter hat geschrieben: Arrau wurde ja von Martin Krause, einem der letzten Schüler Liszts ausgebildet, da stellt sich dann bei mir die Frage, mehr Werkstreue oder mehr Inspiration.
Hallo Bernd-Peter,

spannend ist auch Arraus Sicht der Sonate h-moll, die er als Faust-Drama für Klavier deutet, wie es ihm über Krause vermittelt wurde. Das zeigt, daß "Werktreue" bei Liszt in der Regel einen programmatischen Bezug einschließt auf eine poetische Idee, insofern Inspiration - Musik ist Ausdruck eines Inhalts - notwendig immer mitspielt. Horowitz scheut die virtuose Selbstdarstellung nicht, die Theatralisierung und das Setzen auf Wirkung. Da hält sich Arrau zurück - auch Cziffra, der mag bei aller Virtuosität überhaupt keinen Theaterdonner auf dem Klavier, das ist immer wieder für mich verblüffend. Das sind alles Facetten von Liszt, die Frage ist dann, wie man sie gewichtet. Wo Liszt selber asketisch schlicht sein will, da sollte man diese Schlichtheit auch lassen finde ich und nicht durch Bearbeitung effektvoll machen wollen, wozu Horowitz und Volodos etwa neigen.

Beste Grüße
Holger
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Bernd Peter
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Beitrag von Bernd Peter »

Hallo Holger,

Deine ausgewählten Stücke sind aus der "Weimarer Zeit", 1.Ruhestadion Liszts nach seiner Odysee durch Europa.

Unter dem Einfluss von Carolyne zu Sayn-Wittgenstein entwickelte sich hier die 1.Schaffensperiode als Komponist.

Das mitgebrachte Kind von Carolyne, Marie, war später Mutter hocharistokratischen österreichischen Adels und eine große Förderin von Künstlern.

Das Zusammenfinden solcher Menschen und Gegebenheiten und die Auswirkungen auf Kultur und Politik zeigen für mich etwas von dem Glanz und der Größe menschlicher Kultur, die heutzutage spärlich zu finden ist.

Kann jeder sein eigenes Urteil dazu haben, mir ist die Person Liszt Ausgangspunkt für manche gutverheißende Richtungen des Miteinanders und Schaffens.

Gruß

Bernd Peter
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Bernd Peter hat geschrieben: Das Zusammenfinden solcher Menschen und Gegebenheiten und die Auswirkungen auf Kultur und Politik zeigen für mich etwas von dem Glanz und der Größe menschlicher Kultur, die heutzutage spärlich zu finden ist.

Kann jeder sein eigenes Urteil dazu haben, mir ist die Person Liszt Ausgangspunkt für manche gutverheißende Richtungen des Miteinanders und Schaffens.
Hallo Bernd Peter,

genauso ist es! Angeblich hat der Mensch heute ja mehr Freizeit - aber wir verschwenden sie mit aller Art von schlechter Unterhaltung und Zeitvertreib. Es gibt heute eine ganze Vergnügungsindustrie, die uns ständig verführt, unsere Zeit nutzlos zu vergeuden. Da haben wir effektiv weniger Zeit für die wesentlichen Dinge. Liszt hatte wohl wenig "Sitzfleisch". Die Gräfin Sayn-Wittgenstein war dann so etwas wie die Managerin für seine Kompositionstätigkeit, hat ihn - zu seinem und unserem Glück - quasi an den Stuhl gefesselt und beaufsichtigt. Sonst hätte er seine großen Werke wie die H-moll-Sonate wohl nie zustande gebracht.

Beste Grüße
Holger
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Uwe_1
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Beitrag von Uwe_1 »

Hallo Herr Dr. Kaletha

Ist zwar ein anderes Thema.

Was halten Sie von der Hamelin Doppel CD mit Leopold Godowskys Studien über die 27 Etüden von Chopin. Die Stücke von Godowsky werden als Kategorie unspielbar (für Standard Pianisten) eingestuft. Daher sind die Godowsky Etuden nur einem sehr kleinen Kreis an Pianisten vorbehalten.
Dies hat natürlich Hamelin, als den derzeit wohl technisch besten Piansten herausgefordert.
Ich persönlich würde die Hamelin Aufnahme: Godowsky: The Complete Studies on Chopin's Etudes bei Hyperion erschienen, unter die besten 10 Klavieraufnahmen aller Zeiten einordnen.
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Uwe_1 hat geschrieben:Ist zwar ein anderes Thema.

Was halten Sie von der Hamelin Doppel CD mit Leopold Godowskys Studien über die 27 Etüden von Chopin. Die Stücke von Godowsky werden als Kategorie unspielbar (für Standard Pianisten) eingestuft. Daher sind die Godowsky Etuden nur einem sehr kleinen Kreis an Pianisten vorbehalten.
Dies hat natürlich Hamelin, als den derzeit wohl technisch besten Piansten herausgefordert.
Ich persönlich würde die Hamelin Aufnahme: Godowsky: The Complete Studies on Chopin's Etudes bei Hyperion erschienen, unter die besten 10 Klavieraufnahmen aller Zeiten einordnen.
Hallo Uwe,

Godowskys Bearbeitungen der Chopin-Etüden mit Hamelin - die Platte habe ich natürlich! :D Das ist Hamelin wie auf den Leib geschnitten. Ein Virtuose mit Klangsinnigkeit und poetischer Kraft. Da könnte ihm derzeit wohl nur Arcadi Volodos Konkurrenz machen - Volodos hat sich mit den Godowsky-Etüden aber bislang wohl nicht beschäftigt. Für einen "absoluten" Vergleich ist das Repertoire ein bisschen abseitig. Wie würden das andere Klaviertitanen spielen? Jorge Bolet konnte die Chopin-Godowsky-Etüden jedenfalls auch sehr überzeugend darstellen. Um unter die 10 besten Aufnahmen zu kommen, muß die Aufnahme für mich auch eine interpretationsgeschichtlich herausragende Bedeutung haben. Deshalb sind bei mir diese obersten Plätze an andere schon vergeben. :cheers:

Beste Grüße
Holger
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

P.S. Die Liszt-Platte von Hamelin mit der h-moll-Sonate steht noch auf meiner Wunschliste!

Beste Grüße
Holger
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Bernd Peter
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Beitrag von Bernd Peter »

Hallo Holger,
Die Gräfin Sayn-Wittgenstein war dann so etwas wie die Managerin für seine Kompositionstätigkeit
und wahrscheinlich auch Muse, oder?

Ohne die holde Weiblichkeit fehlt es - neben der Aufsicht - doch meist an Inspiration.

Richard Wagner hätte ohne seine Cosima vieles nicht angefangen bzw. zu Ende gebracht.


Gruß

Bernd Peter
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Bernd Peter hat geschrieben:
Die Gräfin Sayn-Wittgenstein war dann so etwas wie die Managerin für seine Kompositionstätigkeit
und wahrscheinlich auch Muse, oder?

Ohne die holde Weiblichkeit fehlt es - neben der Aufsicht - doch meist an Inspiration.

Richard Wagner hätte ohne seine Cosima vieles nicht angefangen bzw. zu Ende gebracht.
Hallo Bernd Peter,

genau so war es. Die Gräfin Sayn-Wittgenstein hat Liszt sogar die Ausführung der Entwürfe seiner Schriften überlassen (sie erscheint natürlich nicht als Mit-Autoren, im 19. Jhd. war die Frauenemanzipation noch nicht so weit!), denn er, der Reisende, hatte wenig Zeit. Dabei war er unglaublich vertrauensselig, eine seiner Charaktereigenschaften. Selbst wenn Leute sein Vertrauen mißbrauchten, hat er es ihnen nicht entzogen. So gehen die antisemitischen Stellen in der Schrift über die Zigeuner auf das Konto der Gräfin. Liszt selber war so etwas völlig fremd, auf Wagners berüchtigte Schrift über das Judentum in der Musik hat er ja sehr bitter-böse reagiert. Liszt hat einfach nicht kontrolliert, was seine Geliebte da geschrieben hat!

Beste Grüße
Holger
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Harmony
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Beitrag von Harmony »

Not everyone kwows that Franz List is also an excellent Organ composer and player...

An example of this is the CD of the Organplayer Hans-Jurgen Kaiser on the Ladegast organ of Dom in Schwerin on Brilliant Classics SACD 92208 recorded by Reinhard Geller.('97)

This magnificent SACD recording includes:

- Prelude & Fugue on the name of B.A.C.H
- variations on 'Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen'
- Fantasia and Fugue "Ad nos, ad salutarem undam"
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Dr. Holger Kaletha
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Beitrag von Dr. Holger Kaletha »

Harmony hat geschrieben:Not everyone kwows that Franz List is also an excellent Organ composer and player...

An example of this is the CD of the Organplayer Hans-Jurgen Kaiser on the Ladegast organ of Dom in Schwerin on Brilliant Classics SACD 92208 recorded by Reinhard Geller.('97)

This magnificent SACD recording includes:

- Prelude & Fugue on the name of B.A.C.H
- variations on 'Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen'
- Fantasia and Fugue "Ad nos, ad salutarem undam"
Hallo Harmony,

thank you very much! :D Liszts Organ music - great and necessary to discuss! I search for the recording with Marie Claire Allain (french organ of the famous A. Cavaille Coll (19. century), recording Erato).

Beste Grüße
Holger
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Harmony
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Beitrag von Harmony »

Question to Holger,

What about the transcriptions of Franz Liszt Beethoven's symphonies for piano?

I know that they belong to Liszt best exercises for piano composition and playing but I don't know much about recordings of it with leading piano players. What's your idea about it. Do you have some examples?
I am very interested in it because I do very love Liszt and Beethoven pianoworks... :D

Greetings from Rotterdam,

Joop
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