Weltmusik - Versuch einer Erklärung

Klangperlen und künstlerische Leckerbissen
Winfried Dunkel
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Weltmusik - Versuch einer Erklärung

Beitrag von Winfried Dunkel »

Liebe Musikfreunde,

beim Stöbern in alten Dateien fand ich nachstehenden Text, den ich vor rund zwölf Jahren in einer kleinen HiFi-Zeitschrift veröffentlichte (das Urheberrecht liegt bei mir). Es würde mich freuen, wenn dieser Aufsatz bei dem einen oder anderen Interesse an der Thematik erzeugen würde.

Bitte wundert Euch nicht über die "Sie-Form" - es handelt sich, wie gesagt, um einen Zeitschriftenartikel.


Weltmusik - Versuch einer Erklärung

Im Verlaufe zahlreicher Gespräche (auch auf der High End ’99) wurde ich oft gefragt, weshalb ich - in letzter Zeit vermehrt - häufig meine Hörberichte auf solch’ „komischer Musik“ basieren würde, ob ich denn mit der E-Musik überkreuz sei. „Unsere Klassik“ (?) sei doch wohl das Maß aller Dinge. Die, mit denen ich das bereits mündlich durchgerungen habe, mögen verzeihen, daß mir an dieser Stelle einige entsprechende Anmerkungen unumgänglich scheinen. Vorab sei gesagt: Die heutige hochentwickelte symphonische Musik, die, so darf wohl behauptet werden, in den Werken von Gustav Mahler ihre finale Gestalt erreicht hat, fordert vom Hörer ein enormes Maß an Fachkenntnissen. Ich stelle die Frage, ob jemand derart kompliziert durchformulierte Musik verstehen kann, ohne die Wurzeln allen Klanggeschehens zu kennen? Denn auch hier haben wir es mit einem evolutiven Vorgang zu tun, und wer an dessen Ende beginnt, wird wohl kaum in der Lage sein, Entwicklungen kognitiv zu nutzen. Die Bewertungen, welche täglich feststellbare Oberflächlichkeiten und schreiberische Rezidivierungen dokumentieren, sind Legion und bedürfen an dieser Stelle keiner näheren Betrachtung. Ich weigere mich nämlich zu glauben, daß ein kulturbeflissener „Klassikhörer“, der nicht einmal den Takt eines überschaubaren Saltarello mitzählen kann, beispielsweise eben Mahlers gewaltige Tonsprache versteht...

Doch wenden wir uns nun dem Versuch zu, über die Ursprünge der Musik in die Klänge der Welt zu gelangen; Folgerungen und Rückschlüsse ergeben sich zwischenzeilig dann von selbst.

Wie anfangen, wie formulieren, wie Mißverständliches ausklammern? Vielleicht geht es so: Ich habe absolut nichts gegen E-Musik, höre sie mit großem Interesse und innerer Hingabe. Nur - wenn die immer gleichen Werke in immer anderen Interpretationen und/oder Besetzungen veröffentlicht werden, reduziert sich nach (in meinem Falle) vier Jahrzehnten Rezipiententum die Faszination doch recht erheblich. Wenn man in so vielen Jahren praktisch jedes Orchesterwerk etliche Male und in -zig Varianten gehört hat, vermag die „zigundeinste“ nur noch schwerlich zu entzücken, denn ich bin kein Musikwissenschaftler, der schon aus beruflichen Gründen stets neue Facetten und Varietäten erforscht - ich bin Musikhörer. Möchte ich heute E-Musik genießen, darf das nicht solche sein, die mit der - zugegeben kühnen - Wortschöpfung „klanggewordene Iteration“ bezeichenbar ist; was mich wegen ihrer instrumentalen Reize schon relativ früh zur Alten Musik führte. Darauf aufbauend (siehe: evolutiver Vorgang) beschäftigte ich mich mit der Renaissance, dem Barock in allen Varianten, der „Mannheimer Schule“, dem Rokoko, dem Biedermeier und schließlich mit den Werken des großen Johann Sebastian Bach. Hernach „trieb“ es mich zu den weniger bekannten Komponisten des 16. bis 19. Jahrhunderts; und endlich fanden Heitor Villa-Lobos, Ariél Ramírez, Mario Castelnuovo-Tedesco und Joaquín Rodrígo (1902 - 1999) mein Interesse. Letzterer ist auch einer jener vielfach unterschätzten Komponisten - das „Concierto de Aranjuez“ kennt jeder, doch wie steht es mit seiner Tondichtung „A la busca del más allá“ oder der „Zarabanda lejana y Villancico“? Ferner zählt es kaum zum Allgemeinwissen, daß Rodrigo seine „Fantasía para un Gentilhombre“ 1954 für den Gitarristen Andrés Segovia komponierte und sie eine Hommage an Gaspar Sanz (1640 - 1710) darstellt; Joaquín Rodrigo nämlich hat dessen „Pasacalles de la Cavalleria de Napoles“ sowie die „Españoletas“, Werke des Hochbarock folglich, weiterentwickelt und aus ihnen jene symphonische Phantasie für großes Orchester geschaffen. Sie sehen: E-Musik ist für mich durchaus ein Thema! Ich habe im Laufe der Zeit nur die Lust verloren, das zu hören, was einem allseits als „kulturelles Muß“ eingegeigt wird.

Ausgangs der siebziger Jahre entdeckte ich für mich (parallelinteressiert) die Musik von Südamerika, war erstaunt, begeistert, „hin und weg“, wie die jugendfrische Wendung lautet. Es begann mit einer Rundfunksendung über ein Tanz- und Musikfest (Diablada) im bolivianischen Oruro: Tolle Musik - nur die Tonqualität ließ zu wünschen übrig. Da ich in jüngeren Jahren sehr spontan selbst wüsteste Ideen realisierte, ging’s hier genauso: „Ich fahre nach Südamerika und nehme dort selbst auf...“ Sie werden mich (möglicherweise rechtens) für verrückt erklären - diesem Projekt zuliebe, das 1983 tatsächlich ablief, studierte ich die südamerikanische Indianersprache „Quechua“ (die sich als Fachgebiet dann später in meiner Arbeit verselbständigte und mich noch heute fasziniert), um vor Ort mit den Menschen reden zu können.

Einmal musikalisch „fremdgegangen“, begann ich die Schönheit, die innere Kraft dieser Klänge nach und nach zu begreifen; und schließlich zog die weltläufige Musik Südamerikas, die zahlreiche Formen und Stile synkretisiert, mich mit Macht in jene „andere Musik“, die Weltmusik, in die Klänge jener Länder, die mehrheitlich nicht in Westeuropa liegen. Was gibt es doch alles, welche wundervollen Melodien, Instrumente, Rhythmen und Formen offenbaren sich dem, der bereit ist zu hören! Was entgeht im Gegenzug demjenigen, dem eben diese Bereitschaft fehlt! Nichts gegen eine Stradivari oder Amati oder ein echtes Ruckers-Cembalo! - herrlich..., doch wissen Sie, wie berückend, bezaubernd, begeisternd eine persische santur ist (hackbrettartiges Instrument; Holzkorpus; 72 - 100 Drahtsaiten; mit Hartholzhämmerchen geschlagen), wie man im Klang einer weich-singenden vietnamesischen dàn tam thâp (Kastenzither) versinken kann, welch unglaublicher tonaler Reichtum der paraguayischen Harfe innewohnt, wie die impulsive Autorität einer polynesischen pate (Baumtrommel) gefangennimmt? Ist Ihnen die „erzählerische Ausdruckskraft“ der südamerikanischen kena (indianische Kerbflöte; pentatonisch) geläufig? Kennen Sie die klangliche Variationsfähigkeit einer persisch/arabischen tombak (Vasentrommel) oder die der saz (türkisch/kurdisches Tanbûr-Instrument mit 14 - 16 Bünden und vier bis sieben Saiten); haben Sie schonmal dem malagassischen máróvány (idiochordes Röhrenpsalterium mit sieben bis 20 Saiten, gezupft oder geschlagen, existiert auch in Westafrika, Malakka und Indonesien), einem qanun (arabisches Psalterium mit 63 bis 78 Darmsaiten), einer setar (farsisches Zupfinstrument mit birnenförmigem Korpus und acht Saiten) oder gar der so unendlich variablen und farbstarken persischen Langflöte nây gelauscht?

Sicher fällt Ihnen auf, daß in obiger Nennung orientalische Instrumente die Mehrheit stellen. Mag es auch häretisch wirken - Fakt ist: Fast alle unsere heutigen Instrumente sind auf Bauformen und Entwicklungen persisch/farsischen sowie arabisch/maurischen, beziehungsweise gar altgriechischen Ursprungs zurückzuführen. Der Urvater der Violine z.B. ist die arabische rebab oder rabab, aus der im Laufe der Jahrhunderte die Fidel und später eben die Violine entstand (die irische fiddel dagegen ist eine unabhängige Sonderform, was vermutlich auch für die walisische crwth gilt - letztere ist übrigens richtig geschrieben: ohne Vokale); unser Hackbrett ist das Kind der Santur, die alpenländische Zither sichtlich aus dem Qanun abgeleitet; und warum heißt die Laute eben Laute? Meine sprachwissenschaftlich begründete These: Sie entstand aus dem arabischen ’ûd, (deutsch: „Holz“; sog. Kurzhalslautengitarre, Basis des südamerikanischen charango de madera) das, wohl aus Persien stammend, mit den arabisch/maurischen Völkern ungefähr im 10. Jahrhundert in den Süden der iberischen Halbinsel kam (in das Kalifat von Córdoba folglich, wo u.a. der Multi-Künstler Ziryab wirkte). Nun kann kein Spanier einen „glottal stop“ am Wortanfang sprechen - aus dem glottalisierten /’û/ wurde ein weich angehauchtes und mit der Präposition „la“ versehen: „la-ud“; in der Tat heißt die Laute heute im Spanischen laúd. Etymologische Folge war im Deutschen dann die „Laute“...

Die persisch/farsischen wie auch arabisch/maurischen Formen und Stile wirkten - unabhängig von Reconquista und Albigenserkreuzzug - bis weit in das 16. Jahrhundert stark auf die Musik der westeuropäischen Länder ein, weshalb in der Alten Musik, besonders der ursprünglichen der Vaganten und Spielleute, diese, nennen wir es weiterhin „orientalischen“, Melodien und Instrumente Eingang und später ihren Platz fanden: In den „Cantigas de Santa María“ (z.B. von Alfons X. el Sabio) noch unüberhörbar, in den Kompositionen der Troubadours (Languedoc, 12. Jh.) immer noch dominantes Element, bis hin zu den Werken etwa von Giorgio Mainerio (ca. 1535 - 1582) - hier besonders in „Schirazula Marazula“, „Tedesca-Saltarello“ und „Ungaresca-Saltarello“ -, welche unverkennbar einen orientalischen Touch aufweisen. Müßig scheint gleichwohl die Frage nach unrettbar Verlorengegangenem (siehe ebenfalls Reconquista, Albigenserkreuzzug, Schlacht von Bézier etc.): Hätten die gnadenlosen Zeitläufte uns nicht fast alle Musikschriften von Ziryab bis zu den Troubadours genommen - wer weiß, zu welch weiterer Entwicklung die Musik fähig gewesen wäre... Den Weg zurück zu den Wurzeln (und letztlich hinein in die Weltmusik) weist uns mithin die Alte Musik - scheuen Sie sich bitte nicht, Ihren Fuß einmal auf diesen Weg zu setzen, ich bin sicher: Sie werden ihn zu Ende gehen wollen...

Nach der vorgängig erwähnten Dezimierung bzw. auch Verdrängung der arabisch/maurischen sowie persisch/farsischen Basen der Musik, von denen Restbestände als gewollte oder unbewußte Einflußnahmen in der westeuropäischen überlebten - allegorisch formuliert: wie Blätter eines entwurzelten Baumes -, wurde, beginnend mit dem 15. Jahrhundert, die kulturelle Insellage Westeuropas durch die „überseeischen Unternehmungen“, wie der euphemistische Terminus für die nach außen hin als Forschung oder fromme Mission getarnten Gold- und Wertgegenstandbeschaffungsfahrten von Einheiten der Seestreitkräfte der damaligen Weltmächte Spanien, Portugal und England lautete, aufgebrochen und sukzessive der Kultur anderer Weltengegenden geöffnet. Was nun nicht bedeutet, man hätte derlei mit wissenschaftlichem Akzent von offizieller Seite betrachtet, vielmehr galt es zuvörderst, im Rahmen der Beutezüge die vermeintlich überlegene europäische Kultur und Zivilisation zu überbringen. Dazu zählte selbstredend die Verbreitung des christlichen Glaubens, welcher auf Grund der seiner Lehre immanenten Akzeptanz widriger Lebensumstände („...die Letzten werden die Ersten sein“; „...ein jeder bleibe in seinem Stand ... und wenn er als Sklave berufen ist, bleibe er umso lieber in seinem Stande...“; „...es ist keine Obrigkeit denn von Gott...“) in idealer Weise geeignet war, eroberte und zwangsmissionierte Völker unter Hinweis auf das kommende Reich, das nicht von dieser Welt ist, auszuplündern. Und die letzte humane - seinerzeit ohnedies allenfalls rudimentär ausgeprägte - Hemmung (siehe: Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverfolgung etc.) fiel mit der Bulle „Inter cetera divinae“, erlassen am 4. Mai 1494 von Papst Alexander dem VI.: „... Kraft der Autorität des allmächtigen Gottes schenken und übertragen wir Euch, Ferdinand und Isabella, sowie Euren Nachfolgern, zum Lohn für die Besiegung der Ungläubigen Granadas alle Länder und Inseln, die jenseits einer Grenze hundert Meilen westlich der Azoren liegen ...“ („Alexandersche Weltverschenkung“) - diesen Ukas in Händen konnte man mit den Bewohnern der mittel- und südamerikanischen Länder nach Belieben verfahren; zumal jene vom Papst, dessen auch weltliche Macht spätestens seit der Gründung der Inquisition (Synode von Toulouse, 1229) eine absolute war, noch nicht als Menschen anerkannt waren (sic!). Anderen Geschäften parallel, erfuhr auch die Sklaverei und der mit ihr erwachsene schändliche, hochprofitable Handel traurige „Blütezeiten“. Ich möchte das alles hier nicht unnötig ausbreiten - unser Thema ist schließlich die Musik, doch sind gewisse Hintergründe unumgänglich -, sondern empfehle daher entsprechende Literatur; Sie sollten z.B. unbedingt den „Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder“ (Bartolomé de las Casas, 1474 - 1566, ISBN 3-458-32253, lesen, dann wissen Sie ansatzweise, was ich meine...

Neben all dem Grauen und Entsetzen, das der weiße Mann (nicht nur!) über den lateinamerikanischen Kontinent brachte, neben der unsäglichen Zerstörung ökologisch diktierter Wirtschafts- und Sozialsysteme, deren Folgen bekannt sind, vermochte es die nachgerade unglaubliche menschliche und mentale Kraft der mit der Natur symbiotisch verbundenen Urbevölkerung und ihrer Nachkommen, Kulturen miteinander zu verschmelzen und daraus Neues zu schaffen; Stärke und Greiflichkeit indianischer Religionen und Weltsicht bildeten die Grundlage des Kultursynkretismus’, dem schlußendlich auch die Musik des Kontinents ihre Existenz in der heutigen Vielfalt, den Erhalt ihrer rezenten Traditionen und - besonders! - ihren weltläufigen Habitus verdankt. Von außen kommende Formen und Stile mit Selbstverständlichkeit involvieren, fruchtbare Vernetzungen ausstrahlen und wieder zurückführen, übernehmen, ausweiten, verarbeiten und umsetzen - mit diesen dürren Vokabeln sei angedeutet, mit welcher Energie die Musiker Lateinamerikas ihre Künste wahrten und wahren, erweitern und fortentwickeln, ihnen solchermaßen jene schrankenlose Internationalität verliehen haben, die staunen macht.

Ich will nicht endlos ausholen, stelle nachfolgend lediglich einige Tatsachen in den Raum: Die Expansion in die Neue Welt brachte notwendig europäische Musikkultur dort hin, Musikkultur, die eben arabisch/maurisch, die eben persisch/farsisch gründet. Mit der unseligen Sklaverei kam auch die Musik jener bedauernswerten Menschen in die neuen Länder (im 16. Jh. „Las Indias“ geheißen), vermischte sich, bildete Synkretismen, welche jetztzeitlich nicht zuletzt ihren Ausdruck finden in der „Música Criolla“ von Perú oder in diversen gleichfalls schwarzafrikanisch basierten Liedern Boliviens, beispielsweise der „Negra Tuntuna“.

Der kulturelle Austausch durch die reisenden, handeltreibenden arabischen Völker und die seefahrenden Europäer und Polynesier - sowie die daraus herleitbare Verquickung - ließ das mitentstehen, was heutigentags mit dem Sammelbegriff „Weltmusik“ umrissen wird. Zu konstatieren ist hier einerseits eben die angesprochene musikalisch/kulturelle Vermischung, andererseits das Faktum, daß trotz aller gegenseitiger Beeinflussung geographisch umreißbare Quellen häufig ohne größere Probleme nachweisbar geblieben sind; ich denke hier insonderheit an die Insel Madagaskar, deren Musikkultur unüberhörbar polynesischen Ursprungs ist und sich stark mit arabischen und schwarzafrikanischen Einflüssen durchsetzt zeigt. Hinzu kommt ihre bereitwillige Adaption europäischer Formen und Stile - das alles läßt sich mühelos analysieren.

Doch nicht nur von Europa nach transatlantischen Gebieten hin (und teils womöglich zurück) vollzog sich der oben erwähnte musikkulturelle Austausch; auch eine „Ost-West-Infiltration“ ist gegeben. Damit meine ich dies: Indien - ein Land mit unglaublich reicher Kultur und Kunstfertigkeit - dürfte nicht wenig zu unserer hiesigen Musik beigetragen haben, denn bekanntermaßen stammt das Volk der Roma, welches seit dem zehnten Jahrhundert sich als Sammler, Konservator, Weiterentwickler und Arrangeur vielgestaltig-reicher Musik einen Namen machte, eben aus Indien. Es scheint logisch, daß die Musiker dieses Volkes, die allen Quellen zurfolge hochbegabt waren und - wie gesagt - akribisch Formen und Stile sammelten und verbreiteten, nicht unerheblichen Einfluß nahmen. Denn von Indien aus gelangten sie in das Osmanische Reich und von dort im Laufe der Zeiten weiter über Ungarn in unsere Gefilde. Die Musik der Roma atmet bis heute die tonalen Wurzeln des indischen Subkontinentes, ergänzt, bereichert, verfeinert und künstlerisch ausgeziert durch sehr intensive Kontakte mit arabischen, farsischen und maurischen Formalien. Komplettierend darf gefragt werden, inwieweit sie diese mitprägten oder gar entwickelten. Sie glauben es nicht? Dann hören Sie bitte einmal in die CD „Gypsy Run“, World Netword 57.944 (über 2001, Frankfurt) hinein...!

Ob heute noch jemand die angesprochenen Evolutionen, Beeinflussungen und Befruchtungen zur Gänze chronologisch nachvollziehen kann, wo überall ethnomusikologische Ansätze absolut eindeutiger Provenienz sich destillieren lassen - das dürfte eine müßige Frage sein; dennoch böte sich das Thema dezidierter Forschung an. Und die Forschung sollte nicht an der Startlinie verharren, sondern weiterdenken, weitergehen: In den Jahren 1850 bis 1872 etwa wurde die Bevölkerung der Insel Tokelau (bei Neuseeland) durch südamerikanische Sklavenfänger bis auf rund 80 Bewohner reduziert - diese Menschenjäger waren Angehörige des christlichen Glaubens, nicht irgendwelche Piraten, und handelten nach sogenannten geschäftlichen Prinzipien. Wohin wurden die Opfer der Sklavenjäger deportiert? Ganz gewiß auch nach Südamerika - und in welcher Weise brachten sie ihr reiches polynesisches Musikerbe mit und gegebenenfalls unter die Leute? Was davon ist eingegangen in die Musik von Südamerika? Ich kann es nicht definitiv sagen, doch sei folgendes gestanden: Als ich die auf Tokelau eingespielte CD „Te Vaka“, EUCD 1401 (über ARC-Musik, Hamburg) erstmalig hörte, wirkte speziell der Titel 7 und kontextlich anbindend Titel 8 fürwahr gänsehäutig. Nun muß man wissen, daß ich prinzipiell vor dem Hören neuer Musikformen (und die von Tokelau waren für mich neu!) niemals Cover- oder Booklet-Texte lese: ich lasse es einfach auf mich einwirken. Wieso nun gerieten jene absolut fremden Klänge dermaßen heftig emotionalisierend? Der Booklet-Text klärte mich über vorgängig schon Dargestelltes auf: südamerikanische Sklavenfänger... Dios mío... welche musikalisch-historisch-psychologisch-irritierenden Schwingungen kamen (kommen) da ‘rüber...?

Sie sehen: Musik, als Weltkulturerbe im Wortsinne betrachtet, ist mehr, unendlich viel mehr als nur Abfolge schöner (oder weniger schöner) Töne...!

Wenn ich in obigen Zeilen mit in jeder Weise unzureichenden Worten versucht habe, einen Zirkelkreis um die Musik der Welt zu ziehen, erklären sich die (ungebührliche?) Kürze und mehrere (unvermeidliche) rigide Themen-, Orts- und Zeitsprünge damit, kein endloses Elaborat verfassen zu wollen; als „anstoßende Grundgedanken“ mag das Gesagte hinreichen.

Halten wir schlußendlich fest: Die Musik in ihrem „So-Sein“ ist offensichtlich weit weniger leicht erklärbar, als flotte Schreiber das gerne glauben machen. Via Rezeption der verschiedenen Formen und Stile der Kontinente sollten wir versuchen, mehr begreifen zu können. Und damit ist nicht nur die Musik gemeint...

Langer Rede kurzer Sinn: Beschäftigen Sie sich doch einmal mit Weltmusik, finden Sie heraus, welche Formen und Rhythmen Ihnen am meisten zusagen, tauchen Sie ein in diese „andere“ Musik - ich bin sicher, Sie finden zumindest einen Nebenzweig, dem Ihr Interesse fortan gehören wird. Ausschließen kann ich nicht, daß Sie möglicherweise diesen Klängen am Ende rettungslos verfallen...

Winfried Dunkel
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KSTR
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Beitrag von KSTR »

Nur kurz, meine Entdeckung der "Weltmusik" (blöder Name) Anfang der 90er (durch das französischsprachige schweizer Nachtprogramm von DRS3, "Couleur Trois") war der Start einer nicht enden wollenden Entdeckungsreise und entscheidenden Bereicherung in jeder Hinsicht, auch als aktiver Musiker... da reizt mich immer Musik besonders, die ich nicht "intellektuell" verstehe bzw nicht rational nachvollziehen kann "wie die das machen", und da gibt es eine Menge vor allem im rhythmischen Bereich... aber auch bei den Melodien und Strukturen. Und es reizt mich Musik, die mich quasi sofort in Hypnose versetzt. Am besten beides zusammen und mit etwas modernen Aspekten angereichert (was die Instrumentierung und die Produktion betrifft), quasi "Weltmusik-Crossover". Musterbeispiel : "Seya" vom Oumou Sangare aus Mali http://www.youtube.com/watch?v=sbxCaUdvlsI
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Fujak
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Beitrag von Fujak »

Hallo Winfried,

ich habe mit großem Interesse Deinen Artikel gelesen, der für meine Begriffe viele wertvolle Aspekte (vor allem die historischen Strömungen auf der Grundlage der geschichtlichen Ereignisse) zu einem schlüssigen und sinnvollen Ganzen zusammenfügt. Nach dem Lesen Deines Artikels höre ich Weltmusik anders. Danke für diesen Beitrag!

Grüße
Fujak
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Bernd Peter
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Beitrag von Bernd Peter »

Hallo Winfried,

irgendwie ist es bei mir mit dieser Musik oft wie bei Getränken und Gerichten aus anderen Ländern.

Am besten schmecken sie dort.

Andererseits wäre es mehr als albern, europäische Musik als das allein Seligmachende anzusehen.

Ich glaube aber schon, daß wir durch unsere Herkunft musikalisch vorgeprägt werden und Landschaft wie Klima starken Einfluß auf unseren Hörgeschmack nehmen.

Ausgenommen: 4'33" :wink:

Gruß

Bernd Peter
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martino
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Beitrag von martino »

Hallo Winfried,

vielen Dank fürs Einstellen dieses tollen Artikels, der Lust macht tiefer einzutauchen! Gerne mehr davon, gerade auch wieder konkrete Musikempfehlungen (ich weiß, dazu gibt es schon einen Thread). Schließlich wird unter dem Oberbegriff der Weltmusik auch so einiges seichtes Geplätscher verkauft - wo sich ein westlicher mehr oder weniger Künstler an fremden Instrumenten und Stilen versucht/vergeht. Was gut gehen kann, allzu oft aber nicht. Daher ist der Begriff für mein Empfinden inzwischen fast negativ belegt... und das natürlich zu Unrecht.

Martin
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo,

freut mich ehrlich, daß Euch dieser "Parforce-Ritt" durch Zeit und Raum gefallen hat - danke für die positiven Zuschriften!

@Bernd-Peter: Du hast recht, Spezialitäten schmecken am besten im Herkunftsgebiet. Allerdings bietet die häusliche Wiedergabe gewisse Vorteile: Man muß nicht um die halbe Welt jetten, wenn einem der Sinn z.B. nach polynesischen Klängen steht ... grins.

@Fujak: Ja, derlei exotische Klänge, die teils zudem innere Schwingungen auslösen, besitzen großen Reiz. Tip: Versuche, die CD "Madagascar", WorldNetwork Nr. 18, Best.-Nr. 55.835, aufzufinden. Aufnahme WDR-Köln, teils live im Großen Sendesaal, teils im Studio. Gruppen und Solisten aus Madagascar in Topform; die Aufnahmen sind erstklassig und frei von den heute üblichen Computermanipulationen (Aufzeichnung 1983, Produktionsjahr 1993).

@KSTR: Ich finde auch, daß "Weltmusik" ein fragwürdiger Begriff ist - aber er hat sich nunmal etabliert. Wie könnte man's sonst nennen? Vielleicht "ethnisch-geographisch basierte Musik", wäre treffender.

@Martin: Richtig, die Vokabel "Weltmusik" wird zuweilen mißbraucht. Konkrete Empfehlungen - mal sehen, was sich machen läßt. Das Problem besteht darin, daß Neuproduktionen meist tontechnisch völlig indiskutabel sind, man deshalb auf ältere Produktionen zurückgreifen muß, wobei nie sicher gesagt werden kann, ob sie noch erhältlich sind. Detektivarbeit...

Beste Grüße: Winfried
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Bernd Peter
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Beitrag von Bernd Peter »

Hallo Winfried,
Man muß nicht um die halbe Welt jetten, wenn einem der Sinn z.B. nach polynesischen Klängen steht ...
denke doch, das kann die beste Anlage nicht rüberbringen, siehe

http://de.wikipedia.org/w/index.php?tit ... 0823000822

Gruß

Bernd Peter
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Franz
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Beitrag von Franz »

Sehr lesenswerter Artikel, Winfried. Du schaffst es immer wieder, mit solchen Beiträgen, daß man sich mit der Musik fremder Kulturen näher auseinandersetzt, zumindest was den musikalischen Aspekt betrifft. Und das trägt letzten Endes dazu bei, andere Herkünfte, anderes Denken und Fühlen besser zu verstehen. Dies drückt sich auch in der jeweiligen Musik aus.

Gruß
Franz
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Rudolf
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Putumayo - African Blues

Beitrag von Rudolf »

Hallo Winfried,

vielen Dank für deinen spannenden Reisebericht durch die Musik(en) der Welt!

Wenngleich du als Purist in Sachen Weltmusik ein wenig die Nase rümpfen magst: Ich liebe die Weltmusik-Sampler von Putumayo: http://www.aktives-hoeren.de/viewtopic.php?f=17&t=52. Keine CD-Reihe ist in meiner Musiksammlung so häufig vertreten wie diese. Sie macht einfach gute Laune. Meine aktuelle Empfehlung:

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... und von den in der Regel etwas authentischeren "Rough Guides to ..."

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Viele Grüße
Rudolf
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo Rudolf,

Naserümpfen? Keineswegs! Das, was man Weltmusik nennt, steht naturgemäß jedem Experiment offen. Der Name der Gruppe "Putumayo" klingt südamerikanisch-andin, weshalb mich das spontan interessiert. Frage: Wie sieht's tontechnisch aus? Komprimiert usw.?

Beste Grüße: Winfried
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo,

es wurde die Frage nach entsprechenden Tonträgern gestellt. Etliche, die in die Sparte "arabisch/maurisch" sowie darauf basierende Klänge gehören, habe ich seinerzeit hier aufgelistet:

http://www.aktives-hoeren.de/viewtopic.php?f=17&t=1120

Zur Musik Südamerikas und deren Adaptionen, Synkretismen etc. findet Ihr hier u.a. Tonträger-Tips:

http://www.aktives-hoeren.de/viewtopic.php?f=17&t=1125

Ich hoffe, es ist für jeden etwas dabei. Einige "Exotica" werde ich demnächst nachreichen.

Beste Grüße: Winfried
Kabeljau
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Beitrag von Kabeljau »

Danke auch von mir für diesen tollen Artikel, bin ich doch auch ein "couchtourist" und reise gerne akustisch wenn es nicht physisch möglich ist. Die von Rudolf dankenswerter Weise angesprochene "Rough Guide to" Serie kann ich wirklich auch empfehlen. Es braucht schon etwas "Übung", aber wie am Ende des Artikels treffend resümiert: Es kann durchaus passieren dass sich das Archiv in ungeahnte Richtungen ausdehnt. So hadere ich gerade mit dem Problem der Anzeige von kyrillischer Schrift auf meinem Sonos :-(
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Franz hat geschrieben:Sehr lesenswerter Artikel, Winfried. Du schaffst es immer wieder, mit solchen Beiträgen, daß man sich mit der Musik fremder Kulturen näher auseinandersetzt, zumindest was den musikalischen Aspekt betrifft. Und das trägt letzten Endes dazu bei, andere Herkünfte, anderes Denken und Fühlen besser zu verstehen. Dies drückt sich auch in der jeweiligen Musik aus.
Hallo Franz,

danke auch für Deine freundlichen Worte! In der Tat öffnet derlei Musik sozusagen ein Fenster in andere (bzw. vergangene) Kulturen - und genau ist m.E. ihr besonderer Reiz.

Beste Grüße: Winfried
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Winfried Dunkel
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Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo "Kabeljau",

Couchtourist - eine hinreißende Wortschöpfung! Und was die kyrillischen Anzeigen anbetrifft: Besser als chinesische oder japanische Schriftzeichen - gell...? (grins)

Beste Grüße: Winfried
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Winfried Dunkel
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Raga Purya Kalyan

Beitrag von Winfried Dunkel »

Hallo,

wie versprochen, hier ein weiterer Tonträger mit "exotischer" Musik:

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WDR-WorldNetwork 52.984
Shivkumar Sharma, Zakir Hussain
"Raga Purya Kalyan", Klassische indische Musik

Zugegebenermaßen fehlt mir hinsichtlich indischer Musik jegliche Vorbildung; doch rein intuitiv möchte ich diese CD als künstlerisch sehr wertvoll einstufen. Die mentale Annäherung ist etwas schwierig, doch die vorzügliche Aufnahmequalität erweist sich als hilfreich, diese völlig ungewohnten Klänge zu hören, schlußendlich zu genießen. Die Musik braucht einige Zeit, bis sie "in die Gänge kommt", sukzessive entwickeln die Interpreten formale Abläufe. Das titelgebende Werk, Raga Purya Kalyan, dauert 44 Minuten, erfordert die Bereitschaft des konzentrierten Hörens. Im Gegenzug läßt sich sagen, daß diesen Klängen gewisse hypnotische Faktoren nicht abzusprechen sind - so zumindest mein Eindruck.

Shivkumar Sharma spielt eine äußerst klangschöne Santur, jenes mit Hartholzhämmerchen geschlagene persisch/farsische Saiteninstrument, das Aufnahme und Wiedergabe vor erhebliche Probleme stellt, denn die Santur ist extrem impulsschnell, wird zudem häufig mit den Hämmerchen in Trillerformen "bearbeitet". Dies läßt rasend schnelle Impulsfolgen entstehen, die gemeinsam mit den resonativen Reaktionen des hölzernen Korpus' unter einen Hut gebracht werden müssen. Sharma brilliert nicht allein mit der perfekten "klassischen" Spielweise: Er streicht zudem zuweilen mit den Fingern über die Saiten, was dem Klang dann die Anmutung einer Glasharfe aufaddiert.

Schwierige Musik, ja, aber unbedingt hörenswert. Wer das Abenteuer wagt, wird - je nach Stimmungslage - entweder bald die "Eject"-Taste bedienen, oder aber sich von den völlig ungewöhnlichen Klängen und Rhythmen bezaubern lassen.

Beste Grüße: Winfried
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