Mit Chopin ist es fast wie mit Mozart: Nahezu jeder Musikfreund und auch die meisten Pianisten lieben ihn. Das zu ergründen, wäre ein eigenes Thema!
Es gibt eine eigene Tradition des Chopin-Spiels. Berühmte Chopin-Interpreten der Geschichte waren u.a. Ignaz Jan Paderewsky (der Pianist und Diplomat war, sogar polnischer Außenminister!), dann der Klavierphilosoph Alfred Cortot (Cortot-Aufnahmen zu erwerben, ist immer ein Gewinn, das ist reine Poesie auf dem Klavier), der übrigens Etüden für das Üben von Chopin-Etüden komponiert hat, dann natürlich der große Artur Rubinstein.
Aus der polnischen Schule stammen Stefan Askenase und Adam Harasiewicz. Zu den Gewinnern des Warschauer Chopin-Preises, die mehr geworden sind, als nur sehr gute Chopin-Interpreten gehören Maurizio Pollini, Martha Argerich, Vladimir Ashkenazy (2. Preis hinter dem 1. Harasiewicz) und Krystian Zimerman. Viele andere große Pianisten des 20. Jahrhunderts haben unvergleichliche Chopin-Aufnahmen hinterlassen: Der früh verstorbene Dinu Lipatti, Arturo Benedetti Michelangeli, Claudio Arrau, Vladimir Horowitz, Emil Gilels, Svjatoslav Richter.
Meine erste Empfehlung ist eine Box (Decca-Eloquence) mit sämtlichen Chopin-Einspielungen von Adam Harasiewicz, zu haben für nur 20 Euro! Durchweg großes Chopin-Spiel, ungeheuer präziös und einfühlsam, was die Idiomatik angeht. Überragende Preludes, Etüden und Polonaisen. Große Sonatenarchitekturen sind seine Sache freilich nicht! Ebenso empfehlenswert die Chopin-Box mit Artur Rubinstein (RCA) mit den wichtigsten Werken, die es (jpc) immer noch zum Dumpingpreis für 25 Euro zu haben gibt. Zugreifen, solange es sie noch gibt! Rubinstein hat die meisten Chopin-Werke im Studio übrignes mehrfach aufgenommen, in der Mono- und Stereo-Ära. Gerade neu erschienen: Eine frühe Aufnahme der Nocturnes bei EMI. Vladimir Ashkenazy hat das gesamte Klavierwerk chronologisch eingespielt (bis auf die komplett und nicht chronologisch einzeln aufgenommenen Zyklen der Etüden und Preludes). Dieses chronologische Einspielung gab es auf LP – leider haben sie das Konzept aus wohl kommerziellen Gründen nicht in der CD-Box übernommen! Schade!
Nun zu den einzelnen Werken:
I. Die Sonaten
Die 1. Sonate ist eine noch etwas unbeholfene Schülerarbeit, die 2. und 3. Sonate dagegen sind musikalische Monumente – die erste Sonate befindet sich in der Harasiewicz-Box. Auch Ashkenazy hat sie eingespielt (Doppel-CD: 3 Sonaten plus die Etüden: Sehr empfehelnswert!). Meine Referenzen:
2. Sonate (b-moll mit dem Trauermarsch)
- Arturo Benedetti Michelangeli (Arezzo 1952 und London 1957) Die Londoner-Aufnahme ist enthalten in der kürzlich erschienenen Box mit BBC-Mitschnitten (3 CDs für 30 Euro). Schlichtweg magisches, Staunen erweckendes Klavierspiel, das sich einem ins Gedächtnis als unvergeßliches Ereignis einbrennt!
- Artur-Rubinstein: Die Studio-Aufnahme der 2. und 3. Sonate (RCA), dazu die Konzertmitschnitte Rubinstein in Moskau und ein Mitschnitt aus Lugano (Label Aura). Eine ungemein intelligente Dramaturgie des Trauermarsches (was freilich so nicht im Notentext steht!), die bei vielen Pianisten Schule gemacht hat. Das Moskauer-Konzert von 1960 kursierte in Rußland als LP.
- Emil Gilels auf einem Bechstein-Flügel (DGG Studioaufnahme, wieder veröffentlicht in der Serie Steinway-Legends, Emil Gilels). Eine schlicht ideale Aufnahme!
- Claudio Arrau (EMI). Ebenfalls betörend, Chopin im Arrau-typischen Stil! Emotional vielschichtig und textgenau. Beeindruckend, wie er mit seinen Riesenhänden die von Chopin notierten großen Bögen im Scherzo herausarbeitet, was sonst niemandem so gelingt!
- Maurizio Pollini (DGG, 2. und 3. Sonate): Eine Mischung aus italienischer, Bellinischer Kantabilität und Klassizität, überragend!
Eindeutig Artur Rubinstein (RCA). Vollendetes, kraftvolles und zugleich wunderbar klangschönes Klavierspiel, das den polnischen Ton ideal trifft.
III. Walzer (komplett)
- Die berühmte Aufnahme von Dinu Lipatti
- Artur Rubinstein, der jede Salonattitüde vermeidet.
Rubinsteins Gesamtaufnahme, Horowitz (Auswahl) und Benedetti Michelangeli (Auswahl) als drei grundverschiedene Ansätze: Rubinsteins überlegene charakterisierende Gestaltung, Chopins Mazurkenwelt polnisch-idiomatisch, dabei völlig unexzentrisch und irdisch-gesund, Michelangelis metaphysischer Tiefsinn und lyrische Intimität mit ihrer berückenden Schönheit aber auch sich öffnenden Abgründen, Horowitz im besten Sinne exzentrische (außer-mittige), dämonisch-tänzerische Gestaltung.
V. Nocturnes
- Artur Rubinstein (RCA): Die Kunst, die ideale Linie zu treffen (hörbar in Nr. 1). Einfach beglückend in jeder Hinsicht!
- Claudio Arrau: Antipode zu Rubinstein, er spielt nicht die Kantilenen entlang, sondern offenbart die Widerhaken der Musik.
- Maurizio Pollini: Die Nocturnes nicht als biedermeierliche Idylle, sondern mit dramatischem Puls! Für mich ein interpretationsgeschichtlicher Meilenstein!
- Alfred Cortot: Die Aufnahme aus den 30igern (EMI) wird zu recht noch heute von vielen Pianisten verehrt wie etwa Alfred Brendel.
- Maurizio Pollini (DGG) – z.Zt. für 10 Euro zu haben! Pollini at his best – ungemein formsinnig, organisch, klangschön und aufregend feinsinnig (z.B. Nr. 2 – beeindruckend, wie er die Melancholie und Trauer nicht vordergründig larmoyant, sondern hintersinnig durch eine ungemein subtile Farbschattierung hörbar macht!).
- Grigory Sokolov: Sokolov zerlegt die Preludes in lauter hochexpressive Phrasen. Eine wirklich denkwürdige, wirklich aufrüttelnde Aufnahme – reiner Expressionismus als Kontrast zu Pollinis Klassizität. (Gerade neu erschienen in einer 2 CD-Box zusammen mit den Etüden op. 25 und der Sonate Nr. 2.)
- Vladimir Sofronitzky : In der Brilliant-CLassik-Box gibt es einen Mitschnitt der Preludes, der wahrlich genialisch ist. Er verbindet die Expressivität von Sokolov mit Sinn für die organische Linie – einfach einzigartig, man kommt da aus dem Staunen nicht mehr heraus! Sofronitky war wirklich einer der großen Pianisten des 20. Jahrhunderts, nicht nur seines Scriabin wegen!
- Maurizio Pollini (DGG): Die klassische Einspielung. Mit unglaublichem Zug und wie aus einem Guß. Maßstabsetzend!
- Vladimir Ashkenazy (Decca): Die Etüden gehören zu seinen besten Chopin-Aufnahmen. Sehr ausgefeilt, zurückhaltender aber auch wärmer als Pollinis Aufnahme! Eine wirklich hörenswerte Alternative. Gibt es zusammen mit den Sonaten (2 CDs).
- Claudio Arrau (EMI): Eine Lehrstunde großen Klavierspiels: Technisch absolut überlegen, völlig unsentimental und doch hochpoetisch, dazu sogar noch analytischer als Pollini! Unverzichtbar!
- George (György) Cziffra: Geliszteter Chopin, die klaviertechnisch spektakulärste Aufnahme an den Grenzen des Machbaren und zugleich höchst musikalisch! Ein Cziffra-Monument! (Nr. 23 aus der Serie Great Pianists, 2 CDs mit Werken von Chopin, Liszt)
- Murray Perahia: Die überzeugenste der neueren Einspielungen – großartig gestaltet!
Artur Rubinstein (RCA)
1. Scherzi
(Nr. 1 h-moll)
- Benedetti Michelangeli (Mitschnitte aus Bregenz und London, Label Aura). Komposition aus einer depressiven Phase Chopins in Wien – Krieg mit Polen. ABM fördert wie kein anderer die traumatische Expressivität zutage – Schmerzausbrüche aus der Tiefe des Unbewußten. Zudem unglaublich textgenau! Die eineinhalb Minuten langsamere Fassung aus London 1990 ist fast noch eindringlicher als die virtuose aus Bregenz. Unvergleichlich!
- Vladimir Horowitz (Mitschnitt in: Horowitz rediscovered) – deutlich besser als die DGG-Aufnahme. (Horowitz im Film der DGG: "Für einen alten Mann doch nicht schlecht!" Refrain von Svjatoslav Richter – "... sagte er zu einer schlechten Einspielung des h-moll Scherzo!")
- Maurizio Pollini: Nicht so existentialistisch wie ABM und exzentrisch wie Horowitz, aber mit einem wahrlich ausgesungenen Trio: Chopin mit dem Gesicht Schuberts: wunderschöne Tropfenmotive!
Benedetti Michelangeli (DGG). Dazu Joachim Kaiser: Jahrhundertaufnahme des b-moll-Scherzo! Dem ist nichts hinzuzufügen!
(Nr. 3 cis-moll)
Adam Harasiewicz: Nur er vermag es, durch das Trio mit seinem Choralidiom hindurch die dramatische Spannung aufrecht zu erhalten! Habe ihn mit dem 3. Scherzo in den 70igern im Düsseldorfer Schumann-Saal gehört und schon damals hat mich seine Interpretation sehr beeindruckt!
(Nr. 4)
Vladimir Ashkenazy (Decca, die alte Aufnahme (CD Decca Legends)): Mit virtuosem Eros und Brillanz gespielt! Umwerfend! Nicht minder eindrucksvoll Richters Mitschnitt seines Carnegie-Hall-Konzertes von 1960 (CD Richter rediscovered).
2. Balladen
Krystian Zimermans Aufmahme besticht durch ihre Durchdachtheit und präziose Pianistik. Maßstabsetzend - bis auf die 4. Ballade, die leider in Episoden zerfällt. Ihm fehlt der Sinn für den großbogigen dynamischen Spannungsaufbau – der h-moll-Sonate von Liszt beobachten kann!
(Nr. 1 g-moll)
Benedetti Michelangeli: Die Coda ist gefürchtet. Niemand bewältigt sie technisch so souverän wie ABM – selbst Horowitz pfuscht da! Die DGG-Studioaufnahme ist maßstabsetzend, unglaublich ausgefeilt. Den lyrischen Mittelteil spielt kein anderer so betörend. Gegen die dämonische Virtuosität des wahrlich märchenhaften Mitschnitts aus London 1957 (das Konzert (BBC) einen Tag bevor er seine legendäre Aufnahme mit dem Ravel-G-Dur-Konzert und Rachmaninow-Konzert Nr. 4 machte, 2 CD SBT 2088) wirkt diese Studioaufnahme allerdings fast schon asketisch. Sehr spannend auch der Mitschnitt aus Bregenz 1985 (Label Aura). ABMs Spätstil: Emotional ungeheuer vielschichtig mit einem wahren Überschwang an Farbtönungen gespielt, dazu eine ungemein beredte Phrasierung ! Der große Meister kann hier nur sich selber ernsthaft Konkurrenz machen!
(Nr. 4)
- Svjatoslav Richter: Die 4. Ballade hat Richter sein Leben hindurch begleitet und er liebte sie besonders – er spielte sie in seinem ersten privaten und später öffentlichen Konzert sowie beim Vorspiel im Moskauer Konservatorium in Anwesenheit von Heinrich Neuhaus, der anschließend sein Lehrer und Mentor wurde. Es gibt verschiedene Mitschnitte, z.B. aus Italien in den 60igern (DGG). Einfach ideal gespielt – das Maß aller Dinge!
- Vladimir Ashkenazy: ähnlich überzeugend wie Richter, sowohl die alte Aufnahme (Decca Legends) als auch die neue Digitalaufnahme mit ausgewählten Chopin-Stücken. Die dynamische, fast schon symphonische Dramaturgie stimmt, dazu eine sehr intelligent gestaltete Coda!
Benedetti Michelangeli (Fonitcetra, auch als DVD zu haben bzw. Bregens 1985 (Aura)) oder Claudio Arrau (EMI).
X. Berceuse
Benedetti Michelangeli (Fonitcetra, CD oder DVD) oder Pollini (DGG)
XI. Andante Spianato et Grande Pollaca Brillante
Rubinstein, Benedetti Michelangeli. Beide haben dieses Virtuosenstück geadelt zu einem klassischen Werk. Rubinstein durch die Zurücknahme jeglicher Virtuosität, die Reduktion auf charakterisierende Gestaltung. ABM durch die Vergeistigung des Virtuosen, eine rückhaltlose Ästhetisierung. ABM feuert wahre Leuchtraketen auf dem Flügel ab! Überirdisches, entmaterialisiertes Klavierspiel!
XIII. Die Klavierkonzerte Nr. 1 und 2
Artur Rubinstein (RCA), Claudio Arrau (Philips), Marta Argerich (DGG), Maurizio Pollini (EMI Nr. 1), Emil Gilels (Nr. 1), Vladimir Ashkenazy (frühe Decca-Aufnahme mit David Zinman: Nr. 2).
Vom 90-jährigen(!) Rubinstein gibt es einen Filmmitschnitt des 2. Klavierkonzertes (Dirigent: Andre Previn) auf DVD (DGG), zusammen mit dem Griegkonzert und Nr. 2 von Saint-Saens! Da sieht man, was überragende Technik ist (die Ergonomie, die ihm auch im hohen Alter einen solchen virtuosen Zugriff erlaubt) und vor allem, woher diese Klangfülle kommt! Sehr sehenswert und lehrreich für Pianisten!
XII. Herausragende Einzelplatten
- Bendetti Michelangeli: Chopin (DGG): Mazurken (Ausw.), Ballade g-moll, Scherzo b-moll, Prelude cis-moll. Mazurken ohne jeden Zirkus, ungemein plastisch aber lyrisch-verinnerlicht und wahrlich tiefsinnig, sehr authentisch: Selbst-Bekenntnisse einer vereinsamten Seele. Die letzte Komposition Chopins war bezeichnend eine Mazurka. Die Mazurken sind ja keine Tanzmusiken! Chopin selbst nannte sie immer wieder meine Atelierbilder! Jahrhundertaufnahmen der Ballade und des Scherzo, ebenso das unvergleichlich hintergründig melancholisch und zugleich klassisch-schlicht wie hyperfeinsinnig gespielte cis-moll-Prelude!
- Horowitz: Horowitz hat immer wieder genialische Chopin-Aufnahmen gemacht, so etwa dämonisch-tänzerische Mazurken. Dokumentiert ist das in den Studioaufnahmen bei CBS/Sony sowie wahrlich berührend in Horowitz in Moskau.
- Artur Rubinstein: Chopin (11 CDs, RCA), z. Zt. zu haben für nur 25 Euro (Quelle jpc)
Es gibt Pianisten, die schätzt man, und solche die liebt man: Zur letzteren Kategorie zählt für mich Artur Rubinstein. Sein Chopin ist ein Klassiker: mit der Rubinstein eigenen Natürlichkeit, ein eher männlicher als weiblicher Chopin, mit dem für ihn charakteristischen großen, runden und warmen Ton. Immer wieder erhebend: Wie er im 1. der Nocturnes die ideale Linie trifft zusammen mit einer pianistisch traumwandlerischen Klangregie: volltönend und zugleich ein absolut sauberes und durchsichtiges Spiel! Wer Rubinstein noch nicht in seiner Sammlung hat, sollte zugreifen! Auch klangtechnisch sind diese RCA-Studioaufnahmen hervorragend! Man bekommt den (fast) kompletten Chopin-Kosmos, leider ohne die Etüden! Rubinstein hat sie nie komplett aufgenommen! Er liebte das Leben zu genießen und war zum Üben einfach zu faul (was er mit viel Humor selbst zugibt!). - Adam Harasiewicz: Chopin (10 CDs, Decca Eloquence) für 20 Euro
1962 gewann Adam Harasiewicz den Chopin-Wettbewerb in Warschau und verwies niemand anderen als Vladimir Ashkenazy auf den 2. Platz (der hatte vorher bereits den Tschaikowsky-Preis in Moskau gewonnen!). In der Jury saß damals kein geringerer als Arturo Benedetti Michelangeli (ABM). ABM weigerte sich dann, das Schlußdokument zu unterschreiben. Er wollte Ashkenazy vor Harasiewicz plazieren! Harasiewicz kam trotzalledem nachher zu ihm in seine Pianistenschule in Arezzo um zu lernen (dokumentiert im Film!). Harasiewicz Aufnahmen sind zum allergrößten Teil auf höchstem Niveau und von zeitloser Gültigkeit. Ich habe ihn in den 70igern einmal im Düsseldofer Schumann-Saal erlebt (der inzwischen abgerissen ist!), wo er u.a. das 3. Scherzo spielte. Meine persönliche Referenz auch heute noch: Niemand anderem gelingt es, auch im Trio (der Choral mit den Harfenklängen in der rechten Hand) die dramatische Spannung zu halten, so daß sich dieser Teil nicht zur Idylle verselbständigt. Überragende Balladen, Etüden und Preludes, große Sonatenarchitekturen sind seine Sache freilich nicht! Das kann man aber verschmerzen mit Blick auf all die anderen pianistischen Höhenflüge!